Ins Leben zurückgerufen
nachdrückliche Verurteilung seiner Beute gewesen sein mußte.
Er sagte: »Ich danke Ihnen, daß Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben, Miss Marsh«, und stand auf.
»Aber ich habe Ihnen doch noch gar nicht alle meine Alben gezeigt«, sagte sie, auf die Schublade im Sekretär weisend, die so voll war, daß es für eine Holyrod-Biographie gereicht hätte. »Natürlich ist mir klar, wie ermüdend die Erinnerungen einer alten Frau sind …«
»O nein, keineswegs«, versicherte er ihr und bezahlte für seine Höflichkeit mit einer Führung durch die Fotogalerie im Flur. Sie sagte nicht wortwörtlich: »Hier hängt mein letzter Herzog«, es fehlte aber nicht viel.
»Das hier ist eines meiner Lieblingsbilder«, rief sie aus, als es ihm gelungen war, seine Hand auf den Türknopf zu legen. »Einige meiner jungen Gentlemen und ich, als ich in Beddington war.«
»Beddington?« fragte er erstaunt.
»Ja. Ich war dort als Hausmutter tätig, nachdem ich meine Stelle bei den Partridges aufgegeben hatte. Mir war nach etwas anderem zumute.«
Inzwischen hatte sein Gehirn die Korrektur von Beddington, dem Frauengefängnis, auf Beddington College, der Privatschule, vorgenommen. Er besah sich das Foto, um ganz sicherzugehen. Von einem halben Dutzend junger Burschen umgeben, saß Miss Marsh an einem Gartentisch. Bevor sie mit der Lebensgeschichte ihrer Schützlinge anfangen konnte, sagte er rasch: »Hat Miss Kohler den ersten Teil ihrer Strafe nicht in Beddington verbüßt?«
»Ach ja? Wie merkwürdig. Die Schule liegt natürlich ein ganzes Stück vom Gefängnis entfernt, doch durch einen interessanten Zufall hat derselbe namhafte Architekt beide Gebäude entworfen. Wenn man die Augen aufhält, hat dergleichen eine Bedeutung, sehen Sie das nicht auch so, Mr. Pascoe?«
Er nickte heftig und öffnete die Tür. Um ihr zu entkommen, hätte er allem zugestimmt.
Auf der Straße blieb er stehen und sah an dem eleganten georgianischen Stadthaus empor. Es war so geschmackvoll in sechs Wohnungen umgewandelt worden, daß nur die Klingeln verrieten, daß es nicht länger das Zuhause der Familie eines betuchten Bürgers war. Als Kindermädchen schien man seinen Schnitt zu machen – es sei denn, auch die Wohnung wäre eine Zulage für besondere Dienste von seiten ihres dankbaren Arbeitgebers.
Vielleicht hatte er ja den falschen Beruf gewählt. Er versuchte sich vorzustellen, wie er und Dalziel in gestärkten Blusen Kinderwagen durch den Park schoben. Doch der Gedanke brachte ihn nicht zum Lächeln, sondern beschwor das Bild von Rosie vor sein geistiges Auge, und gleichzeitig überflutete ihn die beklemmende Gewißheit, daß er sie nie wiedersehen würde. Er spürte alle Symptome einer aufsteigenden Panik. Er versuchte sich an die Techniken zu erinnern, sie in den Griff zu bekommen, doch er rannte nur wie betrunken die Straße hinunter, auf eine ferne Telefonzelle zu. Er mußte sie anrufen, mußte ihre Stimme hören. Sein Verstand, ja, sein Leben hingen davon ab. Doch als er die Telefonzelle erreicht hatte, flaute die Panik ab. Er wollte zwar noch immer mit seiner Tochter sprechen, wußte nun aber, daß er es nicht durfte, daß er sich nicht sicher sein konnte, ob seine Angst nicht durch die Leitung zu ihr drang und sie ansteckte.
Doch die Versuchung war noch immer groß, und um sie zu bekämpfen, nahm er den Hörer auf und wählte die Nummer seiner Dienststelle.
»Kripo«, sagte er. »Hallo. Bist du das Wieldy? Peter Pascoe am Apparat.«
»Oh«, sagte Wield ohne viel Begeisterung. »Wo steckst du?«
»Harrogate. Tu mir einen Gefallen. Hier wohnt eine Mavis Marsh. Stell fest, wieviel Miete sie für ihre Wohnung bezahlt und wieviel sie bezahlen sollte. Nein, nicht dringend. Reine Neugierde.«
Und ein Vorwand, um anzurufen. Er gab die Adresse durch. Bei Sergeant Wield brauchte man nie etwas zu wiederholen.
»Bleibst du lange weg?« fragte Wield.
»Mit Sicherheit den Rest des Morgens.«
»Geht es um etwas, das ich wissen müßte?«
»Hat dir der große Zampano nichts erzählt?« parierte Pascoe, unsicher, wie Dalziel ihn »vertrat«.
»Den habe ich heute noch nicht gesehen. Er scheint irgendwann in der Frühe angerufen zu haben, seine Großmutter sei krank geworden, und er müsse zu ihr.«
»Seine
was?
«
»Das hab ich auch gedacht. Wenn er jemals eine Großmutter hatte, was ich bezweifele, muß sie schon lange mausetot sein.«
»Und für mich hat er keine Nachricht hinterlassen?«
»Nicht für dich, sondern dich
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