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Ins Leben zurückgerufen

Ins Leben zurückgerufen

Titel: Ins Leben zurückgerufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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zogen immer langsamer an ihr vorüber und wurden immer unschärfer. Es war, als sei sie direkt aus Mickledore Hall in diese riesige Maschine getreten, in der es Stufen zu einem oberen Deck gab und mehr Sitzplätze als in einem Kino.
    Sie waren in der ersten Klasse. Cissy Kohler saß entspannt in ihrem breiten, bequemen Sitz und sah aus dem Fenster. Eine Erinnerung aus der Zeit, als sie diesen Flughafen zum ersten Mal gesehen hatte und die dreißig Jahre zurücklag, stieg in ihr auf.
    Dann sagte eine Stimme: »Mr. Waggs.« Beim Hochblicken erkannte sie Osbert Sempernel, dessen distinguierter Graukopf sich über Jay beugte.
    Er trug denselben oder einen ähnlichen Maßanzug aus der Savile Row, denselben oder einen ähnlichen verfärbten Schlips, und sein Gesichtsausdruck war mit Sicherheit so hochnäsig und unbeteiligt wie eh und je.
    Jay Waggs sagte: »Hi.«
    »Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
    »Meinetwegen auch lang. Wenn Sie ein Ticket haben, brauchen Sie so schnell nicht aufzuhören.«
    »Im Terminal wäre besser«, murmelte Sempernel. »Wir wären mehr unter uns.«
    »Zum Teufel, wir können doch nicht die ganzen guten Leute in diesem Flugzeug aufhalten.«
    »Es gibt jede Menge anderer Flüge. Es geht eigentlich nur darum, das ein oder andere abzuschließen.«
    Waggs warf einen kurzen Blick auf seine Uhr und sagte: »Wenn ich mich nicht täusche, haben Sie noch sieben Minuten dafür.«
    »Ich könnte Sie beide von Bord holen lassen«, sagte Sempernel liebenswürdig.
    »Das könnten Sie, aber ich würde Krach schlagen, das können Sie mir glauben. Und unser Anwalt im Terminal würde auch Krach schlagen. Und stellen Sie sich mal den Aufruhr in den Medien vor, wenn diese kleine Dame hier, die Sie ihr halbes Leben zu Unrecht eingesperrt hatten, schreiend aus dem Flugzeug gezerrt würde, das sie in die Heimat bringen soll. Unsere Papiere sind zudem alle in Ordnung. Dafür hat Mr. Jacklin gesorgt.«
    »Ein sehr gründlicher Mann, Ihr Mr. Jacklin«, sagte Sempernel.
    »Das ist richtig, aber perfekt ist er nicht«, sagte Jay Waggs. »Ich denke, er vergaß Sie über die kleine Pforte zu informieren, und den Schlüssel, den er dafür besitzt.«
    »Wir hatten eine Absprache getroffen, Mr. Waggs.«
    »Und die ist nach wie vor gültig«, versicherte der Amerikaner. »Es hat sich nichts weiter geändert, als daß Cissy es nicht erwarten kann, die Heimat wiederzusehen.«
    Eine Weile stand Sempernel schweigend da. Dann sagte er: »In diesem Fall bleibt mir nur, Ihnen
bon voyage
zu wünschen.«
    »Dasselbe Ihnen, Mr. Sempernel, wohin Sie sich auch begeben mögen.«
    Sempernel richtete sich auf und verließ das Flugzeug. Cissy fragte: »Gibt es ein Problem, Jay?«
    »Nein, Ciss.« Er lächelte sie an.
    »Gut.«
    Sie wußte, daß es ein Problem gab und daß es noch viele weitere geben würde, aber im Augenblick wollte sie sich ganz dem Gefühl des Staunens darüber hingeben, daß sie im Bauch dieser riesigen Maschine saß. Sie fühlte, wie ein fast sexuelles Schaudern sie durchzog, als die Düsen dröhnten. Der Höhepunkt war, als das Monster das Unmögliche vollbrachte, sich von der Rollbahn löste und in den Himmel aufstieg. Sie sah die gezackte Küste verschwinden, dann waren sie über den Wolken. Jegliches Gefühl von Bewegung schwand und mit ihm das Gefühl des Wunderns. Nun waren sie nur noch in einem engen, mit Metall ausgekleideten Raum eingesperrt. Das war für sie vertrautes Terrain.
    Man servierte das Essen. Es war gut. Den Wein lehnte sie ab. Am ersten Abend im Haus hatte sie ein Glas Champagner getrunken. Ihr war ganz schwindelig geworden. Es gab in dieser zudringlichen neuen Welt genügend Quellen der Verwirrung, da brauchte sie nicht auch noch welche durch ihren Mund hereinzulassen.
    »Alles in Ordnung, Cissy?«
    »Bestens, Jay.«
    Sie bedachte ihn mit einem Anflug von Lächeln, mehr brachten ihre Gesichtsmuskeln noch nicht zustande. Männer waren wie Alkohol. Man mußte sie mit Vorsicht genießen, bis man sich sicher war, daß man sie richtig einordnete. Man bildete sich ein, die Leute auszunutzen, und dann mußte man feststellen, daß man selbst ausgenutzt wurde. Wie bei Daphne Busch. Sie sah sie ausgestreckt auf dem Boden der Zelle liegen, die Augen weit aufgerissen, ohne daß sie etwas sahen … oder vielleicht sahen sie ja alles … Sie zwang sich, wieder an Jay zu denken. 27 Jahre lang hatten alle Männer, mit denen sie zu tun hatte, ein Amt innegehabt … Kaplan, Arzt, Anwalt … Und dann war

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