Ins Leben zurückgerufen
Jay aufgetaucht. Er sagte, er sei mit ihr verwandt, aber das war kein Amt. Schließlich war ihr ein Etikett für ihn eingefallen. Er war ein Kreuzritter. Sie wußte ein wenig über die Kreuzzüge Bescheid. Alfred Duggans Romane in der Gefängnisbibliothek hatten bei ihr ein Interesse ausgelöst, und wenn man sich in einer Zeitkapsel befand, dann hegte und pflegte man ein solches Interesse.
Sie wußte, daß die Kreuzritter ihr Ziel in die Tat umgesetzt und die Heilige Stadt befreit hatten. Danach wandten sie sich vom Heiligen dem Profanen zu, nach der göttlichen Gerechtigkeit kam das Plündern.
Es war an der Zelt, einen kleinen Schritt zurück in die Welt zu tun, die sie verlassen hatte.
»Jay, wer bezahlt den Flug?«
Es interessierte sie nicht wirklich, aber das Thema, über das sie eigentlich reden wollte, war nicht für ein volles Flugzeug geeignet.
»Kein Grund, sich darüber Gedanken zu machen«, sagte er. »Bis wir deine hohe Entschädigung bekommen, ist mein Geld dein Geld.«
Der persönliche Wimpel des Kreuzritters flatterte neben der Fahne mit dem roten Kreuz über der befreiten Stadt.
»Glaubst du, daß die Briten die Entschädigung zahlen, auch wenn wir ihnen durch die Lappen gegangen sind?«
»Natürlich. Was sollen sie denn gegen dich vorbringen? ›Wir haben die Abmachung getroffen, daß sie sich still verhält?‹ Okay, vielleicht lassen sie die Sache etwas schleifen, weil wir uns abgesetzt haben. Aber sie wissen, was die Geschichte auf dem freien Markt wert ist. Sie gehört in die Kategorie der Gefangenen von Chillon, des Grafen von Monte Christo oder des Doktor Manette. Deine Memoiren …«
»Ich habe es dir doch schon mehrmals gesagt, Jay, es gibt keine Memoiren.«
»Dann wirst du sie schreiben, Ciss. Oder du besorgst dir jemanden, der sie für dich schreibt. Egal wie du es machst, du kannst auf jeden Fall reich dabei werden, Ciss.«
Sie richtete ihre großen Augen auf ihn, ohne zu blinzeln. Manchmal wirkten sie einfach schlicht und aufrichtig. Dann wiederum waren sie so leer und verbargen alles wie eine Sonnenbrille.
»Ich will nicht reich sein, Jay. Das sage ich dir schon die ganze Zeit. Ich möchte nur eine einzige Sache von dir. Danach lebe ich in aller Ruhe, ohne daß mich jemand stört.«
»Ach ja? Das ist so ziemlich das Teuerste, was es auf diesem Planeten gibt.«
»Willst du damit sagen, daß ich mich der Öffentlichkeit verkaufen muß, um mir leisten zu können, ein ungestörtes Privatleben zu führen?«
»So ungefähr. Zurückstellen kannst du die Uhr nicht, Ciss, aber mit dem richtigen Geld kannst du sie ein ganzes Stück langsamer laufen lassen.«
»Wer braucht dazu Geld? Im Gefängnis kriegst du das alles gratis.«
Sie wandte sich von ihm ab und holte ihre Bibel aus ihrer geräumigen Handtasche. Eine Weile saß sie so da, das Buch offen im Schoß. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, während ihre Augen über die Zeilen glitten. Schließlich schloß sie Buch und Augen, legte sich in ihrem Sitz zurück und schlüpfte mit jahrelanger Übung in ihre Zeitkapsel, genau in die Erinnerung, die ihr gekommen war, als sie aus dem Fenster auf den Flughafen sah.
Sie schreitet die Stufen einer BOAC Comet IV hinab, eine junge Frau Anfang Zwanzig, mit vor Aufregung roten Wangen, als sie das erste Mal den Fuß auf europäischen Boden setzt.
In den Armen hält sie den kleinen Pip, der noch vom Landeanflug weint, der bei ihm Ohrenschmerzen ausgelöst hatte. Vor ihr geht James Westropp mit seiner Frau Pam, welche die ebenfalls aus voller Lunge schreiende Emily trägt, die Zwillingsschwester Pips. Man hatte überlegt, ob John, der Sohn aus erster Ehe, sie begleiten sollte, war dann aber der Meinung gewesen, daß es unfair wäre, den sechsjährigen Schulanfänger aus seiner Umgebung zu reißen, weil James schon bald wieder versetzt würde. Deshalb war John zur großen Erleichterung Cissys in der Obhut seiner Tante in den Staaten geblieben. Sie kam zwar gut mit dem Jungen aus, aber er war so sehr gegen seinen Stiefvater eingestellt, daß er wirklich schwierig war. Ihre eigenen Probleme reichten ihr, um mit zwei brüllenden Säuglingen in dem unbekannten Land ausgelastet zu sein.
»Begrüßen englische Kinder so ihre Heimat?« sagt Westropp auf dem Weg über den Asphalt zum Terminal.
»Englisch? Nun mach mal langsam! Sie sind mindestens zur Hälfte amerikanisch!« protestiert Pam.
»Klar doch. Das ist die brüllende Hälfte. Mir kam der Akzent gleich bekannt vor.«
Sie werfen
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