Ins Leben zurückgerufen
Wert darauf, die Fassade in jeder Hinsicht zu wahren.
Der Lincoln fuhr weg. Sie wandte sich um, griff nach dem ersten Band des Telefonbuchs und schlug Allerdale-Klinik nach. Sie lag in der East 68th, zwischen Madison und Park. Sie schaute zum grauen Himmel hinauf, zog ihren Regenmantel über und ging zum Fahrstuhl.
Mit dem Mantel hatte sie die richtige Entscheidung getroffen. Der Regen hinterließ bereits Tupfen auf dem Gehsteig. Ein Taxi fuhr vorbei, zögerte und hielt dann vor dem nächsten Gebäude. Während sie überlegte, ob sie hingehen sollte, hielt ein weiteres direkt vor ihr, und eine junge Schwarze stieg aus. Zwei Taxis an einem regnerischen Morgen in New York! Das konnte nur ein gutes Omen sein. Sie stieg ein.
East 68th Street war eine enge Schlucht, die aus großen, gepflegten Häusern bestand.
Die Klinik war so diskret, daß sie sie selbst dann noch nicht wahrnahm, als das Taxi direkt davor anhielt. Sie betrat ein Foyer, das einmal zu einem sehr kostspieligen, sehr exklusiven Apartmenthaus gehört haben mußte. Jay hatte gesagt, daß ein ruhiges Leben heutzutage nicht billig war. Offensichtlich war auch ein ruhiger Tod nicht preiswert.
Eine elegante Empfangsdame blickte von einer Computertastatur hoch und fragte, ob sie ihr helfen könne.
»Ich würde gern einen Ihrer Patienten besuchen«, sagte Cissy. »Mr. Bellmain.«
Das Mädchen berührte ein paar Tasten und sagte: »Ihr Name lautet …?«
»Waggs«, sagte Cissy. »Mrs. Waggs.«
»Danke. Möchten Sie nicht Platz nehmen?«
Sie setzte sich, blätterte, ohne etwas wahrzunehmen, durch die Seiten einer eleganten Zeitschrift. Die junge Frau murmelte etwas in ein Telefon. Eine Tür öffnete sich, und eine Frau kam auf Cissy zu. Sie war mittleren Alters und trug ein elegantes schwarzes Kostüm. »Mrs. Waggs? Ich bin Ms. Amalfi, die Geschäftsführerin der Klinik. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich möchte gern Mr. Bellmain besuchen. Ich bin eine alte Freundin. Ich war gerade in der Gegend und habe mich gefragt, warum ich ihn nicht besuche.«
»Ich verstehe. Leider haben wir im Allerdale strenge Vorschriften, Mrs. Waggs. Im Interesse unserer Patienten beschränken sich die Besucher auf diejenigen, die auf der von der Familie erstellten Liste stehen. Ich bin sicher, als alte Freundin werden Sie keine Schwierigkeiten haben, daß Ihr Name auf die Liste Mr. Bellmains gesetzt wird.«
»Ja, natürlich, aber da ich nun schon einmal hier bin …«
»Es tut mir leid«, sagte Ms. Amalfi und trat zur Seite, damit Cissy aufstehen konnte.
Es kam zu keiner Berührung, und doch hatte sie das Gefühl, hochgezogen und hinausgedrängt zu werden. Sie war so lange gewöhnt gewesen, Menschen, die Autorität ausstrahlten, zu gehorchen. Nur einmal in jenen langsamen Jahren hatte sie die Beherrschung verloren, die es ihnen ermöglichte, sie im Griff zu behalten. Nur einmal, und eine Frau war tot zu Boden gestürzt.
Der Regen hatte nachgelassen, obwohl der tiefhängende Himmel nur auf eine vorläufige Wetterbesserung schließen ließ. Sie lief los, ohne überhaupt zu versuchen, eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Als ihr nach vier Häuserblocks ein Taxi entgegenkam, winkte sie ihm in der Absicht, direkt in ihre Wohnung zurückzukehren. Doch sie stellte fest, daß sie noch nicht soweit war, wieder in diese Zelle zurückzukehren, und sagte statt dessen: »Macy’s.«
»Bewegen Sie sich immer von Ihrem Ziel weg?« fragte der Fahrer.
»Wenn möglich«, erwiderte sie.
Sie kannte New York nur von einem halben Dutzend kurzer Besuche mit den Westropps. An das Macy’s konnte sie sich am besten erinnern. Eine Weile wurde sie noch einmal Teil des geschäftigen, bunten Treibens und spürte, wie ihr die Jahre entglitten. Doch schon bald fühlte sie sich müde und verwirrt. Schließlich flüchtete sie sich in ein Café, setzte sich dankbar auf einen Stuhl und rollte sich eine Zigarette. Sie war noch nicht dazu gekommen, einen Zug zu tun, da machten sie zwei Frauen am Nebentisch darauf aufmerksam, daß sie sich in einer Nichtraucherzone aufhalte. Man sprach sie nicht mit der gleichgültigen Höflichkeit an, die sie von vor dreißig Jahren kannte, sondern mit einer beißenden Schärfe, als sei sie im Begriff, durch eine unanständige Handlung öffentliches Ärgernis zu erregen.
Sie tunkte die Zigarette in den Kaffee und ging.
Der Regen prallte nun vom Asphalt zurück, und plötzlich waren Taxis seltener als Einhörner. Sie ging den Broadway hinauf, wobei
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