Ins Leben zurückgerufen
die alten Erinnerungen gegen die neue Panik ankämpften. Einiges hatte sich geändert. Es waren neue Gebäude für uralte Laster entstanden, die sich als neue verkleidet hatten. Sie bemühte sich nach Kräften, die Dinge ruhig zu taxieren und objektiv zu beurteilen, doch die Finsternis ergoß sich über sie wie der Regen, der aus dem Great White Way einen nächtlichen Tunnel machte, durch den die Scheinwerfer der Autos ihr verfrühtes Licht wie Schneckenspuren schmierten.
Sie versuchte einen Trick, den sie im Gefängnis gelernt hatte. Kommst du nicht mehr gegen deine Angst an, dann renne mit ihr, steuere sie in immer abstrusere Regionen deines Unterbewußten, bis schließlich alles so grotesk wird, daß selbst die blinde Panik innehalten und lächeln muß.
Sie war Schneewittchen im Gewitter, sagte sie sich, und boshaftes Gelächter gellte durch die stickige schwarze Luft, ausgemergelte Arme versuchten sie zu Fall zu bringen, böse Augen lauerten auf ein Stolpern. Aber, versuchte sie sich einzureden, zwischen den vom Sturm geschüttelten Bäumen, unter denen zahllose Geschöpfchen Zuflucht gesucht hatten, die alle so verschreckt waren wie sie, schwebte nur die harmlose Eule dahin.
In einem Wald hätte es vielleicht funktioniert. Aber hier wuchsen keine Bäume, alles war Beton und Glas, und die Kreaturen mit den glänzenden Augen, die in den Hauseingängen Schutz gesucht hatten, sahen wahrlich nicht harmlos aus.
Sie beschleunigte den Schritt. Rennend rempelte sie die Fußgänger mit einer Heftigkeit an, die selbst im regnerischen New York Aufmerksamkeit erregte. An einer Kreuzung leuchtete die Fußgängerampel rot auf. Sie sah die Ampel, doch ihr Verstand verweigerte den Gehorsam, und sie wäre geradewegs in den anfahrenden Verkehr gerannt, wenn nicht jemand sie am Arm festgehalten hätte.
Sie wirbelte herum, bereit, zuzuschlagen und zu schreien.
Ein älterer Herr, der die schwarze Kleidung, den breitrandigen Hut und das wohlwollende Lächeln eines altmodischen Predigers trug, sah sie an.
»Wollen Sie sterben?« fragte er.
»Ein besseres Angebot hat man mir den ganzen Morgen nicht gemacht«, sagte sie, hysterisch nach Luft schnappend.
»Laufen die Geschäfte so schlecht?« Er musterte sie mitfühlend. »Sie sind aber auch wirklich naß. Wieviel verlangen Sie dafür, daß ich Sie trockenbumse?«
Er hielt sie für eine Nutte. Irgendwie brachte sie das wieder zur Besinnung.
Sie erwiderte: »Siebenundzwanzig.«
»Dollars?« fragte er überrascht.
»Jahre«, sagte sie. »Ich glaube nicht, daß Sie sich das leisten können.«
Sie ging den ganzen Weg bis zu ihrer Wohnung zu Fuß, trieb ihre Beine in einem Tempo vorwärts, daß genügend Wärme entstand, um die Feuchtigkeit von ihrem Körper abzuhalten, wenn auch nicht aus ihren Kleidern. Etwas wie ein triumphierendes Zittern durchlief sie, als sie den Eingang des Gebäudes sah. Sie hatte zwar nichts Greifbares erreicht, aber sie war allein auf der Straße gewesen, hatte sich Risiken ausgesetzt und war unversehrt heimgekehrt, bereit, sich dem Kampf eines neuen Tages zu stellen.
Beim Aufstoßen der Haustür packte sie eine Hand am Ellbogen, eine Berührung so leicht wie eine Feder und so fest wie ein Schraubstock.
»Sieh mal einer an, Cissy Kohler! Was für ein glücklicher Zufall! Ich wollte Sie gerade besuchen.«
Sie spürte, wie sie durch das Foyer geführt wurde, am fragend blickenden Pförtner vorbei, hinauf zum Fahrstuhl. Dessen Türen öffneten sich, wenn der Mann an der Rezeption auf einen Knopf drückte. Der Griff um ihren Arm wurde etwas lockerer. Sie sah auf und blickte in ein Gesicht, daß sie nur einmal in ihrem Leben aus dieser Nähe gesehen hatte. Auch damals war ihr Haar so naß gewesen, daß ihr das Wasser über Augenbrauen und Wangen gelaufen war. Gelächelt hatte der Mann damals nicht, doch die Augen waren dieselben.
Er sagte: »Cissy, schenken Sie dem Mann ein nettes Lächeln. Dann fahren wir nach oben und unterhalten uns ein wenig über die alten Zeiten.«
Sie hätte nur zu schreien brauchen. Sie blickte in die harten, sie richtenden Augen.
Dann wandte sie sich zum Pförtner und lächelte.
Sechs
»Was fertigt Ihr, Madame?«
»Allerlei.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel … Leichentücher.«
D alziel hatte Linda Steele nicht mit Absicht abgeschüttelt. Als sie aus dem Bistro kamen, fing es an zu regnen. Linda hatte ein Taxi herbeigewunken, das etwa 25 Meter vor ihnen zum Stehen gekommen war. Ein junger Mann im Anzug war sofort
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