Ins offene Messer
Waschbecken hin- über, wischte an einer Stelle den beschlagenen Spiegel frei und nahm sein Rasierzeug heraus. Fußbodenheizung! Jesus, wenn man’s nicht wüßte, könnte man glatt meinen, das Haus würde brennen. Er schäumte sich das Gesicht gründlich ein, zog die Klinge über seine linke Wange. In Janes Schlafzimmer johlte Geordie: «Yo, Mann, das ist geil. Scheiße, Barney, komm her, sieh mich an!»
Er war wie ein Kind. Besaß diese Offenheit, die gleiche rückhaltlose Freude und Verletzlichkeit, wie man sie bei kleinen Kindern auf der Straße sieht. Sam fragte sich, wie er wohl sein würde, wenn die Wirklichkeit ihn einholte. Fragte sich, warum die rauhe Welt es noch nicht vertrieben hatte, bei all den Dingen, die der Junge schon gesehen, schon erlebt haben mußte. Wenn Sam auf der Straße war, dann war er immer ein Erwachsener, war verheiratet gewesen und hatte Familie gehabt, war ein Witwer. Er folgte einem selbstzerstörerischen Impuls, einem Todestrieb, schob die Welt beiseite, weil sie ihm keinen Trost zu bieten schien. Suchte in der Stadt immer nach Arger. Aber Geordie hatte nie eine herzliche oder liebevolle Welt gekannt, niemand hatte je zu ihm gesagt, daß er geliebt wurde oder Respekt verdiente. Seine ganze Lebenserfahrung hatte nur bestanden aus Zurückweisung, Betrug, einer Straße voller Biegungen und Kurven, jede davon gemeiner als die letzte. Jede Zelle seines Körpers drehte sich wie Barney einmal um, bevor sie einschlief, vergewisserte sich, daß es sicher war.
Sam zog sich an und verließ das Bad. Geordie und Jane waren immer noch in ihrem Schlafzimmer, also rief er: «Was macht ihr zwei da?» und ging den Flur hinunter zu der Tür. Sie stand offen, und dahinter sah er Jane mit Terry Deacon. Nur daß es nicht Terry Deacon war, es war Geordie in einem von Deacons Anzügen, das volle Programm: Nadelstreifenhose, Jackett und Weste, weißes Hemd mit Krawatte, schwarze Schuhe.
Geordie drehte sich um, als Sam in der Tür auftauchte. «He, Sam», sagte er, «sehen Sie sich das an.» Er zog die Anzugjacke aus und schnappte sich vom Bett eine Lederjacke, streifte sie über. Es war ein weiches, braunes Leder, reichte ihm bis zum Oberschenkel, saß perfekt. «Na, wie finden Sie’s?» Geordie hatte den Kragen aufgestellt, die Hände tief in die Taschen geschoben, stolzierte im Schlafzimmer auf und ab, Kopf und Schultern bewegten sich rhythmisch von einer Seite zur anderen. Er sah aus wie ein Soulsänger zwischen den Strophen. Little Anthony vielleicht, oder der zwölfjährige Michael Jackson.
«Wie für dich gemacht», sagte Sam mit einem Seitenblick zu Jane. Sie sprühte vor Lebensfreude. Über das ganze Schlafzimmer verteilt lagen Kleidungsstücke und Schuhe, wie bei einem Herrenausstatter beim Schlußverkauf. «Räumen Sie alles aus?» fragte er.
«Was soll ich mit dem Zeug?» fragte sie. «Geordie braucht was zum Anziehen. Ich brauche nichts davon.»
«Was denn, alles?» fragte Geordie. «Scheiße, Sam, jetzt hab ich mehr Klamotten als Sie. Wenn Sie sich was ausleihen wollen, kein Problem.»
Jane lachte und ging zur Tür. «Sollen wir ihn ein bißchen allein lassen?» fragte sie Sam. «Uns einen Kaffee machen?»
«Ja.» Er folgte ihr hinunter, ließ Geordie auf dem Boden sitzend zurück, wo er ein Paar braune Budapester anprobierte.
«Nett von Ihnen», sagte er. «Geordie ist selig.»
Jane warf ihm einen langen, verschmitzten Blick zu. «Komisch, nicht wahr?» sagte sie. «Schon allein, wenn man ihm zusieht, wie er verschiedene Sachen anprobiert... Kleidung läßt einen anders fühlen, läßt einen anders aussehen, weil man sich anders fühlt.»
«Ich habe Brenda neulich getroffen», sagte Sam. «Meine Ex. Sie war ganz in Rot, hat ausgesehen wie ein beschissener Gladiator.»
Jane lächelte. «Rot ist problematisch», sagte sie. «Vermissen Sie sie?» schickte sie nach.
«Sie hat einfach nur irgendwie meine Zeit verschwendet. All die Jahre, die ich mich mit Brenda gestritten habe, hätte ich leben, etwas tun können.»
«Warum hat es so lange gedauert? Ich meine, Sie hätten sie doch einfach verlassen können?»
«Das wußte ich damals noch nicht», sagte Sam. «Ich dachte, ich müßte bleiben, es bis zum Ende durchziehen, was immer dieses es auch war. Ich hatte sie geheiratet, ich empfand so was wie eine Verpflichtung.»
«Dafür zu sorgen, daß es klappt?»
«Ja, vermutlich.»
«Es kann aber doch nicht immer so gewesen sein», sagte Jane. «Am Anfang muß es doch gut gewesen sein,
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