Insel der Freibeuter
aufzugeben, doch jeden Morgen verschob er
seine Entscheidung aufs neue. Kapitän Jack, der
schon die Marseiller Brüder nicht hatte ziehen lassen, hätte, davon war Sebastián zutiefst überzeugt, einen »jungen Wirrkopf und einen alten Toren«
ebensowenig frei mit dem Wissen herumlaufen las-
sen, wo sich sechs Monate im Jahr eines der meist-gesuchten Schiffe der Karibik verbarg.
»Die Jacare ist immer >das Land ohne Wieder-
kehr< gewesen«, hatte ihm Lucas Castano bedeutet.
An diesem Tag verbrauchte er mehr Spucke als ge-
wöhnlich. »Du mußt wissen, daß unser Leben eine
Hölle wäre, wenn wir nicht eine absolut sichere Zuflucht hätten.«
Wie konnte man einem mißtrauischen Schotten und
die gesamte finstere Besatzung davon überzeugen,
daß weder er noch sein Vater die genaue Lage der
Insel preisgeben würden?
Wer konnte garantieren, daß er schweigen würde
wie ein Grab, falls er in die Hände der Schergen der Casa de Contratación fallen würde?
Und wer konnte ausschließen, daß eine saftige Be-
lohnung die beiden nicht dazu verleiten würde, die Kameraden, mit denen sie so viele schwere Jahre
geteilt hatten, zu verraten?
Ehrbarkeit hatte nie zu den Kardinaltugenden der
Bruderschaft der Piraten gehört. Wie konnte man
also von dieser üblen Meute »Seewölfe« erwarten,
daß sie von sich aus an den Anstand eines ihrer Mitglieder glaubte?
Man hätte sich also wie die Marseiller bei Nacht
und Nebel aus dem Staub machen müssen und wäre
dabei Gefahr gelaufen, ebenfalls als Haifutter zu enden: ein Risiko, das der Junge um nichts in der Welt hätte eingehen wollen.
Und selbst wenn sie gefahrlos hätten fliehen kön-
nen, wohin denn?
»Nach Hause«, hatte einige wenige Male der stets
abwesende Miguel Heredia Ximénez zu diesem The-
ma gesagt. Die Schwester wiederzusehen war in der Tat auch der sehnlichste Wunsch seines Sohnes.
Was wohl aus ihr geworden war?
Inzwischen mußte sie fünfzehn Jahre alt sein, rechnete sich Sebastián aus, doch so sehr er sich auch Mühe gab, er konnte sich nicht vorstellen, wie aus dem Mädchen allmählich eine junge Frau wurde,
und wenn sich die Schwester wie ein Schatten in
seine Erinnerung schlich, dann stets als Kind.
Wenn das Boot seines Vaters am Kap vorbei in die
weite Bucht von Juan Griego einfuhr, war das erste, was sie sahen, Sebastián mußte lächeln, wenn er
daran dachte, das kleine Mädchen, das im Schatten der Festung La Galera saß, aufs Meer hinausschaute und sogleich fröhlich zu winken begann. Bis zum
Schlafengehen wich es dann dem älteren Bruder
nicht mehr von der Seite und folgte ihm wie ein
treues Hündchen.
Nur zu oft hatte Sebastián den Spott seiner Freunde ertragen müssen, die nicht verstehen konnten, daß dieses kleine Mädchen, das eigentlich eher aussah wie ein kleiner Junge, stets wie eine Klette an ihm hing. Doch hatte die kecke Kleine ein so einneh-mendes Wesen, daß die ungehobelte Jungenschar
schließlich zähneknirschend ihre Anwesenheit dul-
dete.
Schon mit vier Jahren zeigte Celeste Heredia Ma-
tamoros beeindruckend ihre Willenskraft, die sie
allerdings hinter einem unschuldigen Lächeln und
manchen schlagfertigen Antworten zu verbergen
wußte.
Was mochte wohl aus ihr geworden sein, jetzt wo
sie in einem Palast unter ganz anderen Menschen
lebte?
Gelegentlich erinnerte sich Sebastián an die Wut, die in ihren rebellischen Augen funkelte, als man sie gewaltsam in die Kutsche des Abgesandten der Casa de Contratación von Sevilla zerrte, und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob der plötzliche Wandel in ihrer Lebensweise nicht Einfluß auf ihr mutiges und spontanes Wesen genommen hatte.
In Nächten wie dieser legte er sich mit dem Vorsatz schlafen, das Schiff zu verlassen und sich auf die Suche nach dem Mädchen zu machen.
Bald aber holte ihn das unendliche Meer in die bittere Wirklichkeit zurück: Er mochte zwar ein wahrhaft »freier Mann« sein, ein wilder Pirat ohne jegliche Bindungen, und doch war er ein Gefangener
seines eigenen Berufs geworden, und die Taue, an
die er sich beim Betrachten des weiten Horizonts
klammerte, waren in Wirklichkeit nichts anderes als die schwachen Gitterstäbe eines Gefängnisses, aus dem die Flucht fast unmöglich erschien.
Eintönig flössen so die Tage dahin.
Und die Wochen.
Und die Monate.
Eine harte Strafe.
Zu hart in den Augen eines Menschen, der vom
Leben wesentlich mehr erwartete.
An einem diesigen Nachmittag schließlich, bei dem man nicht
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