Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel der Freibeuter

Insel der Freibeuter

Titel: Insel der Freibeuter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alberto Vazquez-Figueroa
Vom Netzwerk:
Absturz
    bewahrt.
    Das Leben der seltsamen Gemeinschaft verlief also weiterhin in »normalen« Bahnen: bis am Morgen
    eines heißen Sommertages die Wache der Nordküste
    die alarmierende Nachricht brachte, daß während der Nacht die beste Schaluppe verschwunden war.
    Bald stellte sich heraus, daß zwei französische
    Marsgaste offensichtlich beschlossen hatten, zu desertieren.
    Gaston und Rene Rousselot, an Bord nur »die Mar-
    seiller« genannt, waren zwei sehr unterschiedliche Brüder, die allerdings kaum eine Gelegenheit auslie-
    ßen, sich in alle nur denkbaren Schwierigkeiten zu bringen.
    Von allen zehn Peitschenhieben, die Lucas Castano in den letzten Jahren ausgeteilt hatte, waren sechs auf dem Rücken eines der beiden gelandet, und dennoch zettelten die Brüder immer wieder aus dem
    geringsten Anlaß heraus eine wütende Schlägerei an.
    Nach drei Gläsern Rum war Rene in der Lage, so-
    gar – oder besser mit Vorliebe – auf seinen eigenen Bruder mit Fäusten einzuschlagen. Doch aus unerfindlichen Gründen einigten sich die beiden immer wieder, nur um sich mit dem Rest der Mannschaft
    anzulegen.
    Da sie sich jahrelang nur noch mit Rivalen hatten anlegen können, die ihre Tricks nur zu genau kannten, wunderte es keinen, daß sich die beiden Süd-
    franzosen abgesetzt hatten, um sich neue »Opfer« zu suchen. Der erfahrene Kapitän konnte sich aber an fünf Fingern abzählen, daß die beiden bei ihrer Vorliebe für Alkohol und Schlägereien bald herumer-
    zählen würden, wo sich die gesuchte Jacare und ihre nicht aufgreifbare Besatzung verbarg.
    »Entweder machen wir Jagd auf sie«, befand er,
    »oder wir warten ab, bis sie Jagd auf uns machen.
    Also los!«
    »Und wohin?«
    »Sind doch Franzosen, oder nicht? Die Ziege will
    auf den Berg und die Franzosen dorthin, wo man
    ihre Sprache spricht. Ich wette meine vier letzten Haare darauf, daß sie Kurs auf Martinique gesetzt haben.«
    Im letzten Abendrot lichtete die Jacare die Anker, um die gefährlichen Riffe der kleinen Inseln gefahrlos zu umschiffen, und bei Anbruch der Nacht fuh-
    ren sie bereits mit geblähten Segeln Kurs Nordost.
    Jacare Jack hatte genügend seemännische Erfah-
    rung, um sich auszumalen, daß sich die Marseiller mit ihrer Nußschale nicht aufs offene Meer hinaus-wagen, sondern lieber an der Leeseite der Inseln
    entlang segeln würden. Auf diese Weise konnten sie sich beim geringsten Anzeichen von Gefahr in jeder noch so winzigen Bucht verstecken.
    Aus diesem Grund ließ er sich gar nicht erst auf ei-ne sinnlose Verfolgungsjagd ein, sondern beschloß, auf der Luvseite der Inseln die ganze Schnelligkeit seines Schiffs auszuspielen, um die Schaluppe im
    breiten Kanal zwischen St. Lucia und Martinique
    abzufangen.
    Endlich ließ er einmal seinen wahren Charakter
    durchblicken. Gewöhnlich konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, doch in den folgenden Tagen verließ er die Brücke keinen Augenblick lang und befehligte seinen schnellen Küstensegler so bravourös, als ginge es um eine Regatta, bei der seine ganze Habe auf dem Spiel stand.
    »Keiner legt sich mit Kapitän Jack an«, war das
    einzige, was er gelegentlich vor sich hin grollte.
    »Haifischfutter mache ich aus den beiden.«
    Bis zum letzten Schiffsjungen waren alle seiner
    Meinung, denn an Bord hatte jeder mit den verhaß-
    ten Marseillern ein Hühnchen zu rupfen, und jetzt, wo die beiden die gesamte mühsam aufgebaute Existenz der Besatzung aufs Spiel setzten, brachen alte, längst verheilte Wunden wieder auf.
    Selbst der schweigsame Lucas Castano ließ einen
    Fluch hören, und damit war alles gesagt.
    Obwohl Sebastián und Miguel Heredia wie durch
    ein Wunder als einzige an Bord die aberwitzigen
    Gewaltausbrüche dieses barbarischen Pärchens noch nie am eigenen Leib verspürt hatten, war der Junge über den schmutzigen Verrat ebenso empört wie die anderen. Sein Abscheu gegenüber den Deserteuren
    verflog jedoch urplötzlich, als sein Vater zum ersten Mal seit langer Zeit mit ihm sprach.
    »Hab Mitleid mit ihnen«, murmelte er, als sich der Junge immer mehr erregte. »Ihr Ende wird schrecklich sein.«
    »Woher weißt du das denn?«
    »Ich weiß es einfach.«
    Mehr sagte er nicht, doch er wußte es mit Sicher-
    heit. Ein Mensch, der nichts wahrzunehmen schien, was um ihn herum vorging, konnte andere Welten
    »kennen«, von denen andere, die ihn umgaben, noch nicht einmal etwas ahnten.
    Und kein Wahnsinn ist unergründlicher als der, in den man sich freiwillig geflüchtet hat.
    Am

Weitere Kostenlose Bücher