Insel der Freibeuter
meisten verbitterte Sebastian, daß er gegen die schmerzvolle Wahl des Vaters nicht anzukämpfen
vermochte. Jedesmal lief er wie gegen eine unsichtbare Mauer. Das Herz des Vaters schien nur noch
eine Pumpe zu sein, und seine Gedanken waren in
einem unergründlichen Brunnen der Erinnerungen
versunken. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb richtete der Junge seine Liebe, die einst seiner gesamten Familie gegolten hatte, ganz auf seinen Erzeuger. Für Emiliana Matamoros empfand er nur
noch tiefen Groll, während das Bild, das er von seiner Schwester hatte, immer verschwommenere Züge
annahm, so sehr er sich auch dagegen stemmen
mochte.
Schließlich war Celeste zur Zeit der Trennung noch ein kleines Mädchen gewesen, dessen Gesichtszüge
sich ständig zu ändern schienen. Drei Tage nach
ihrem Aufbruch, nach einer Nacht, die sie in einer winzigen Bucht von St. Lucia auf der Lauer gelegen hatte, stürzte sich die Jacare wie ein Pelikan auf die Nußschale der ahnungslosen Marseiller.
Was Sebastian für eine harmlose Redewendung
gehalten hatte, den Satz mit dem Haifischfutter, sollte sich als schrecklicher Ernst erweisen. Kaum hatte der inzwischen nicht mehr wiederzuerkennende Kapitän Jack die Deserteure ergriffen, befahl er, sie ins Meer werfen zu lassen. Zuvor ließ er sie mit starken Tauen aneinanderfesseln und zwischen ihre Schenkel riesige Haken stecken, deren messerscharfe Spitzen auf der Höhe des Penis herausragten.
Mit dem eigenen Messer schnitt er ihnen in die
Beine, die stark zu bluten begannen. Danach befahl er langsamste Fahrt voraus, nahm auf dem Achtersteven Platz und sah zu, wie die Opfer voller Panik im Wasser ruderten und eine rote Spur hinterließen, die bald gierige Haie anlocken würde.
Nach zehn Minuten tauchte die erste Rückenflosse
auf, doch folgte sie zunächst lediglich der Blutspur, ohne anzugreifen, so als traute die dunkle und riesige Bestie dem unerwarteten Frühstück nicht über
den Weg.
Nicht nur an Bord, sondern auch im Wasser blieb
es stumm. Gaston und Rene hatten offensichtlich
eingesehen, daß alles Betteln um Gnade sinnlos war, und sich in ihr schreckliches Schicksal ergeben.
Vielleicht hofften sie auf ein schnelles und mög-
lichst schmerzloses Ende.
Doch wer immer eine so sadistische Qual erfunden
hatte, wußte genau, was er tat. Normalerweise konn-te ein Hai sein Opfer mit einem einzigen Biß in
Stücke reißen, doch wenn dieses Opfer wie ein le-
bendiger Köder gefesselt war, dann hatte es einen entsetzlichen, quälend langsamen Todeskampf vor
sich.
Mit einemmal tauchte ein zweiter Hai aus der Tiefe auf, stürzte sich auf das linke Bein von Rene und riß es bis zum Oberschenkel ab. Als wäre das ihr Signal gewesen, stürzte sich die erste Bestie auf das andere Bein.
Das Meer färbte sich rot vor Blut, und jetzt stieß der beklagenswerte Marseiller einen Schrei aus, der den Zuschauern des grausigen Schauspiels in Mark
und Bein fuhr.
Doch das Schlimmste sollte noch kommen.
Der forschere Hai ließ der wehrlosen Beute keine
Zeit, zu verbluten, sondern attackierte sie erneut und verschluckte dabei den Haken. Damit hing die Bestie unweigerlich an Rene Rousselot und schlug ihre scharfen Zähne in das weiche Fleisch des Bauchs,
den sie bei ihren erfolglosen Versuchen, sich von dem im Rachen feststeckenden Eisen zu befreien,
immer weiter aufriß.
Von den Marseillern blieb nur eine stöhnende
Masse aus Blut, Fleisch und Eingeweiden, die wie
ein Ball im Rachen des Hais hin- und hergeschüttelt wurde. Schließlich konnte der schreckensstarre Sebastián Heredia nicht mehr anders: Er lehnte sich über die Reling und mußte sich das erste Mal in seinem Leben übergeben. Danach nahm er neben sei-
nem Vater Platz, der völlig abwesend eine Machete schliff, und blieb dort sitzen, bis Lucas Castano die Taue durchschnitt und sich die aus allen Himmelsrichtungen herbeigeeilten blindwütigen Haie den
kärglichen Rest der beiden Brüder streitig machen konnten.
Im schweren Jahr nach der grausamen Hinrichtung
wurde Sebastián schneller erwachsen als in der gesamten Zeit, die er bis dahin an Bord der Jacare verbracht hatte, nicht nur, weil er an Körpergröße und Kraft gewann oder in der Kriegs- und Liebeskunst
dazulernte, sondern weil ihm allmählich dämmerte, daß er sich eine andere Zukunft schafften mußte,
weit weg von jener üblen Gesellschaft.
Jeden Abend legte er sich mit der Überzeugung
schlafen, seine Lebensweise, die ihm so absurd vorkam,
Weitere Kostenlose Bücher