Insel der Freibeuter
ihres Lebens in der Neuen
Welt verbringen wollten, gab es nicht viele Orte, an denen nicht eines schönen Morgens der Galgen auf
sie wartete.
Wenn sich ein neuer Nachbar in irgendeiner spani-
schen Besitzung in Übersee niederließ, dann holte die Casa de Contratación von Sevilla erst einmal
Informationen über Vorfahren und Herkunftsort ein und verglich diese Daten mit denen ihres zentralen Archivs. Auf diese Weise konnte sie auch noch den letzten Einwohner der Kolonien kontrollieren.
Ohne Erlaubnis mit Unterschrift und Stempel eines Beamten der Casa war es einem Bürger fast unmöglich, von einem auch nur einigermaßen zivilisierten Ort an den anderen umzuziehen.
Es war nur zu gut bekannt, daß die Zeit, der Eifer und die bemerkenswerte Anstrengung, welche die
Spanier in Westindien aufbrachten, um sich vor
möglichen inneren Feinden zu »verteidigen«, nichts mit der Gleichgültigkeit gemein hatte, mit der man, wenn es darauf ankam, äußere Feinde bekämpfte.
Die spanischen Richter schienen unendlich viel
glücklicher dabei zu sein, einen elenden Hühnerdieb einzusperren, statt einen brutalen Freibeuter aufzuhängen, der eine Galeone voller Schätze versenkt
hatte.
Dieser Widersinn lag vielleicht in der Tatsache be-gründet, daß besagte Richter offenbar die nicht so abwegige Meinung vertraten, daß die Bestrafung
eines Hühnerdiebs andere Hühnerdiebe abschrecken
würde, während ein Freibeuter, den man aufknüpfte, nicht verhinderte, daß neue Piraten neue Schiffe
versenkten.
Eine attraktive junge Frau, die das unverzeihliche Verbrechen begangen hatte, sich mit über zweitausend Perlen der Casa aus dem Staub zu machen,
hatte daher keinerlei Chance, irgendwo in den riesigen, von der Casa kontrollierten Territorien unbemerkt zu bleiben. Sich anderswo als auf Barbados
oder Jamaika niederzulassen war daher ein unmöglicher Traum.
»Niemand von uns hätte sich je vorstellen können, Flüchtling vor dem Gesetz zu werden«, bemerkte
Sebastian in der gleichen Nacht beim Abendessen,
als die Musiker des Nachbarschiffs eine ihrer kurzen Pausen einlegten. »Doch genau das sind wir jetzt, und je früher wir uns damit abfinden, um so besser.«
Celeste setzte behutsam den Silberpokal ab, aus
dem sie gerade trank und auf dem der Totenkopf und das Krokodil eingraviert waren, musterte ihren Bruder verwirrend lange und wollte schließlich wissen:
»Sag mir eins, und sei bitte ehrlich: Warst du schon entschlossen, ein Pirat zu werden, bevor wir uns
wiedergesehen haben?«
»Natürlich! Eigentlich war ich es schon.«
»Und könnte meine Anwesenheit dazu beitragen,
daß du dieses Geschäft eines Tages aufgibst?«
»Wahrscheinlich.« Der Junge deutete auf seinen
Vater. »Jetzt habe ich zwei gute Gründe, mich zu-
rückzuziehen, wenn ich genug Geld zusammen ha-
be.«
»Gut!« sagte das Mädchen. »In diesem Fall denke
ich, daß du recht hast und wir nicht mehr darüber sprechen sollten.« Sie blickte ihren Vater von der Seite an. »Unsere Aufgabe wird sein, dir den Aufenthalt an Land so angenehm zu gestalten, daß du
die Lust verlierst, wieder in See zu stechen.« Sie hob den Pokal: »Auf den jüngsten Piratenkapitän der
Geschichte!«
Lucas Castano unterbrach sie.
»Mach lieber den gerissensten daraus. Der jüngste Kapitän in der Geschichte war Mombars.«
»Der Todesengel?« fragte Sebastian überrascht.
»Genau der«, bestätigte der Panamese. »Mit acht-
zehn Jahren gehörte ihm schon ein Schiff, und er
hatte höchstpersönlich über vierzig Menschen um-
gebracht. Schon damals war er ein Monster, mit buschigen pechschwarzen Augenbrauen und langem,
braunem Kraushaar. Er sah aus wie ein Dämon aus
der Unterwelt. Er trank nicht, spielte nicht, und auch Frauen rührte er nicht an. Seine Besatzung bestand fast ausschließlich aus den wildesten Indios der Region. Sein größtes Vergnügen bestand darin, einen Gefangenen aufzuschlitzen und seine Eingeweide an einen Baum zu nageln. Dann mußte der Mann los-rennen, während sich seine Gedärme entrollten wie eine Schlange.«
»Gütiger Gott!« entsetzte sich das Mädchen und
stellte den Pokal erneut mit zitternder Hand auf das Tischtuch. »Solche Menschen kann es doch nicht
geben!«
»Und ob es die gibt!« beharrte der Panamese. »Ge-
nau so ist Mombars. Und L’Olonnois steht ihm in
nicht viel nach. Beide sind sie verrückt, aber der Todesengel schießt den Vogel ab.«
»Gestern nacht hat mir eine Dirne vorgeschlagen,
auf seinem Schiff
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