Insel der glühenden Sonne
versuchte, sich Louises Gesicht vorzustellen. Zarte Haut, lange Wimpern, volle rosige Lippen. Zum Küssen gemacht, dachte er sehnsüchtig. Und er hatte sich selbst zu einem Jahr Port Arthur verurteilt.
Damals hatte er fest geglaubt, es sei die richtige Entscheidung, doch nun sehnte er sich nach der Tochter des Sträflings. So hatte er noch nie empfunden.
Die Damen würden auf dem Land bleiben, da Mrs. Harris nicht beabsichtigte, für eine Unterkunft zu bezahlen, wenn sie ihr eigenes Haus besaß.
Allyn hatte ihr zugestimmt. Das Farmhaus war behaglich, und die Arbeiter würden sie beschützen. Der schlimme Angriff würde sich nicht wiederholen.
Erst auf dem Rückweg hatte Sean ihm seine Theorie offenbart: dass Lester Harris dahinter stecken könnte, weil es zwischen dem Ehepaar nicht zum Besten stand. Mrs. Harris wollte die Farm verkaufen und nach England zurückkehren. Mit Louise?, hatte er sich sofort gefragt. Doch Harris verweigerte seine Zustimmung.
»Denkbar, dass er seine Frau gern aus dem Weg hätte, oder?«
»Aber so weit würde der Mann doch sicher nicht gehen«, hatte Allyn eingewandt.
»Ich kenne Harris genau, wir waren auf demselben Schiff. Ein hinterhältiger Kerl. Gott weiß, was sie an dem gefunden hat.«
Allyn hatte sich in Port Arthur die Akte angesehen. Verurteilt wegen schwerer Körperverletzung. Wäre er kein junger gesunder Farmer gewesen, hätte man ihn in einem englischen Gefängnis verfaulen lassen. So aber war er der ideale Kandidat für Van Diemen’s Land. Das war Allyn ohnehin als Erstes aufgefallen: Fast alle Sträflinge waren jung, kaum einer über vierzig, und sie lebten auch schon seit Jahren hier.
Harris war nur ein weiteres Opfer, das in diese Falle Ihrer Majestät getappt war.
Das Buch war Seans kostbarster Besitz. Er hatte es versteckt, bis er das Haus wieder für sich allein hatte.
Dann holte er es hervor, strich sanft über das alte Leder, als wäre er ein Eindringling in einem ehrwürdigen alten Gemäuer, und schlug die erste Seite auf:
SIR WILLIAM BLACKSTONES GESETZESKOMMENTARE
Viel zu hoch für ihn, aber es gehörte jetzt ihm. Allein die Ehre ließ ihn erschauern.
Behutsam blätterte er weiter, warf einen Blick auf die Doppelspalten mit den vielen schwierigen Wörtern, las hier und dort eine Zeile, bis er es wieder in die Kiste unter seinem Bett legte.
Er würde es beizeiten gründlich studieren, doch nun musste er sich um Marie und Miss Warboy kümmern.
Er ritt nach Sandy Bay, das Neuland für ihn war, aber ein nettes Ausflugsziel bot. Überall lagen Farmen, doch er suchte nach einem Haus. In der Nähe des Strandes landete er in einer Sackgasse.
Er wollte gerade umkehren, als er ein Herrenhaus mit abweisendem Eisentor erblickte. Dort würde man ihm sicher nicht den Weg weisen. Also sprach er einen Mann an, der im Garten gegenüber arbeitete.
»Ich suche nach zwei Damen, die hier wohnen. Eine Mrs. Warboy und ihr Mädchen«, fragte er freundlich. »Sind sie Ihnen zufällig bekannt?«
»Nein, aber es könnten die Damen im letzten Haus dort drüben sein. Freunde von Ihnen?«
»Verwandte«, sagte Sean und hob grüßend den Hut.
Marie öffnete die Tür, blinzelte kurz und stürzte in seine Arme.
»Sean! Wie schön, dich zu sehen! Was treibt dich denn her?«
»Ich habe nach dir gesucht. Und wen finde ich? Eine ganz neue Marie mit rosigen Wangen und glänzendem Haar …«
Sie strahlte. »Und einem Lächeln im Gesicht.«
»Stimmt. So gut, wie du aussiehst, muss dir die Arbeit wirklich gefallen. Wie geht es Miss Warboy?«
»Gut, sie hält gerade ihr Nickerchen. Kann ich dir Tee anbieten?«
»Gern.« Er folgte ihr ins Haus, doch sie deutete auf die Veranda, wo Tisch und Stühle einluden. »Setz dich, ich komme gleich.«
Einen Moment lang fand er es seltsam, doch dann begriff er, dass Marie ja nicht die Hausherrin war und niemanden einfach hereinbitten durfte. Wie schön, dass sie dem jungen Mädchen mit so großem Respekt begegnete.
Sie trug ein Tablett mit Tee und Keksen heraus. »Die
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