Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
verraten hatte, oder auf sich selbst, weil sie so dämlich gewesen war, sich in den wohl größten Aufreißer des Dorfes zu vergucken.
Wie war sie überhaupt auf die bescheuerte Idee gekommen, sich hier mit einem griechischen Jungen zu trösten? Nur weil Jonas weit weg in Berlin war? Viel besser wäre es, wenn sie ihm einen Brief schickte, damit er sie vielleicht doch nicht vergaß.
Leándra setzte sich auf und blickte durch das nächtliche Zimmer. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, konnte sie auch aufstehen und den Brief an Jonas sofort schreiben.
Plötzlich fiel ihr Blick auf Eleni. Ihre Schwester saß aufrecht in ihrer Schlafnische und blickte ins Leere.
Leándra erstarrte. Sie wagte es kaum, sich zu rühren, während sie darauf hoffte, dass Eleni sich einfach wieder hinlegte. Aber ihre Schwester blieb sitzen. Minutenlang starrte sie durch Leándra hindurch, fast so, als hätte sie schon die ganze Nacht in dieser Haltung verbracht.
Leándras Puls raste. Sie wusste, dass es keine gute Idee war, Eleni anzusprechen. Aber in diesem Moment war ihr jede Reaktion lieber als das blinde Starren ihrer Schwester. »Eleni? Was ist los?«
Als hätten ihre Worte einen Roboter angeknipst, rutschte Eleni zur Bettkante und stand auf. Ihr Blick blieb genauso leer wie zuvor. Doch ihre Bewegungen wirkten ruhig und gefasst, während sie aus dem Zimmer ging.
»Nicht schon wieder«, flüsterte Leándra, sprang auf und schlüpfte dieses Mal in ihre Turnschuhe, die neben der Zimmertür standen. Während sie die Treppe hinuntereilte, rief sie durch das Haus nach ihrer Mutter und ihrer Oma. Aber sie konnte nicht auf die Antworten warten. Eleni drehte bereits den Haustürschlüssel und lief nach draußen.
Leándra trat hinter ihr auf die schmale Steintreppe und erstarrte. Die Nacht war still, so vollkommen still, wie sie es noch nie erlebt hatte. Selbst die Zikaden, deren tausendfaches Zirpen für gewöhnlich die Luft erfüllte, waren verstummt, fast so, als würden sie sich ängstlich zwischen ihre Gräser ducken, um nicht bemerkt zu werden. Leándra spürte, wovor sich selbst die winzigsten Tiere fürchteten: Etwas Dunkles lag über dieser Nacht, ein schwerer Schatten, der sich wie ein Zeltdach über die Landschaft gespannt hatte und das Licht derSterne verschluckte. Erst als Leándra den Kopf hob, sah sie, dass es Wolken waren, schwarze Wolken, die lautlos über den Himmel schlichen und das Zeltdach immer weiter auseinanderzogen. Doch es war so unendlich still, es schien, als hätte sich selbst der Wind verkrochen, um nicht von dem dunklen Zelt gefangen zu werden.
Für einen Moment irrte Leándras Blick umher, um Eleni in der Dunkelheit zu suchen. Doch als sie ihre Schwester entdeckte, zog ein Frösteln durch ihren Körper: Eleni war kaum zu sehen. Ihre Bewegungen waren langsam und gleichmäßig und ließen ihre Gestalt mit der dunklen Nacht verschmelzen. Was auch immer hier draußen vorging – Eleni war ein Teil dieser stillen Finsternis.
Leándra spürte das Bedürfnis, zurück ins Haus zu laufen und sich unter ihrer Bettdecke zu verkriechen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte sie sich weigern, ihrer Schwester zu folgen.
Allein die Vernunft trieb sie weiter. Eleni war hier draußen in Gefahr! Wenn sie auf die Klippen zusteuerte, könnte sie hinabstürzen und sterben.
Leándra versuchte, ihre Furcht hinunterzuschlucken. Doch die dunkle Nacht klammerte sich um ihren Körper, ließ sie spüren, dass sie ein Eindringling war, der nicht hierher gehörte. Aber sie musste Eleni folgen, musste ihre kleine Schwester beschützen!
Leándra klammerte die Arme um ihr dünnes Pyjama-Shirt. Mit lautlosen Schritten suchte sie ihren Weg zwischen Sträuchern und Geröll und bemühte sich, den Anschluss an ihre Schwester nicht zu verlieren. Eleni steuerte auf die Ausgrabungsstätte zu – aber dieses Mal ging sie daran vorbei undbald schon ahnte Leándra, wohin es ihre Schwester zog. Eleni wählte den schmalen Trampelpfad, von dem sie inzwischen wussten, dass er zur Schlucht führte.
Kurz bevor sie die steile Steintreppe erreichten, riss eine Bewegung Leándras Blick zur Seite. Über dem Meer stiegen schwarze Wolken auf und fingen an, sich langsam umeinander zu drehen. Für einen Augenblick dachte sie an eine Rauchsäule, an Nachrichtenbilder von einem brennenden Öltanker. Aber dort hinten auf dem Meer war kein Öltanker, und auch nichts anderes, das brannte. Dort hinten war nur eine wirbelnde Säule aus schwarzen Wolken.
Ein
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