Insel der Schatten
versuchte zu schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Die Augen konnte ich ebenfalls nicht öffnen, sie waren wie zugeklebt, und als ich versuchte, mich aus Miras und Wills Griff zu lösen, gelang es mir nicht. Ihre Hände fühlten sich eiskalt und hart wie Stein an. Es war, als hielte ich die Hände von Toten in den meinen.
Irgendwo in der Ferne murmelte Mira: »Ihr seid so kalt wie Eis. Ihr erfriert. Ihr seid erfroren. Ihr seid tot.«
Dann roch ich es. Der ganze Raum war plötzlich von schwerem, süßem Rosenduft erfüllt.
»Hey!« Das war Will, seine Stimme klang unnatürlich hoch und zutiefst erschrocken. »Aufhören!«
Von Mira kam es flüsternd: »Ihr seid so kalt wie Eis. Ihr erfriert. Ihr seid erfroren. Ihr seid tot.«
»Au!« Will war aufgesprungen und versuchte sich von uns loszureißen. Meine Lider lösten sich, und ich vermochte die Augen aufzuschlagen, was mir aber nichts half. Ich konnte nur undurchdringliche Schwärze sehen.
Die Hunde kamen knurrend und bellend von der Küche ins Esszimmer gestürzt. Ich spürte, wie sie den Tisch umkreisten und hörte sie hecheln. Endlich – es konnten auch nur wenige Augenblicke verstrichen sein, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit – löste sich Mira von uns, stieß ihren Stuhl zurück und lief zur Wand hinüber. Dort knipste sie das Licht an. Der Anblick, der sich uns daraufhin bot, ließ uns alle drei nach Luft schnappen.
Der Tisch war mit weißen Bändern übersät. Sie stapelten sich zwischen uns, bedeckten das Samttuch, die erloschenen Kerzen und die Tischplatte. Auch auf dem Boden lagen welche, und eines schwebte sogar träge durch den Raum, was die Hunde mit einem leisen Knurren quittierten.
Mira stand mit weit aufgerissenen Augen und nach Atem ringend neben dem Lichtschalter. Erst jetzt fiel mein Blick auf Wills Gesicht. Es war übel zerkratzt, Blut quoll aus zahlreichen rasierklingendünnen Schnitten. Er stand mit offenem Mund da, unfähig zu begreifen, was gerade geschehen war.
Ich verbarg mein Entsetzen, so gut es mir möglich war, trat zu ihm und legte ihm sacht eine Hand auf den Arm. »Komm mit in die Küche, ich wasche dir das Blut ab.«
Mich an ihn schmiegend führte ich ihn in den angrenzenden Raum und drückte ihn auf einen Stuhl nieder. Mira folgte uns wie eine Schlafwandlerin. Ich nahm ein sauberes Geschirrtuch aus einer Schublade, hielt es unter den Wasserhahn, wrang es aus und tupfte Wills Gesicht behutsam ab. Er sah mich an wie ein verängstigter kleiner Junge.
»Unter dem Waschbecken im Bad ist ein Verbandskasten«, wandte ich mich an meine alte Pensionswirtin.
Sie brachte das Gewünschte. In dem Kasten fand ich eine desinfizierende Salbe, mit der ich Wills Wangen einrieb. Zum Glück waren die Schnitte nicht sehr tief, eher wirkten sie wie Kratzer von winzigen Krallen. Oder Kinderfingernägeln. Ich fragte mich, ob wohl Narben zurückbleiben würden.
Währenddessen entkorkte Mira mit zitternden Händen eine Flasche Rotwein. Sie schenkte drei Gläser voll, leerte eines davon in einem Zug und füllte es erneut. Dann begannen wir alle gleichzeitig zu reden.
»Ich habe in meinem Leben ja schon viel erlebt, aber so etwas noch nie!«, stellte Mira fest.
»Ich konnte eure Hände auf einmal nicht mehr loslassen«, rief ich.
»Irgendetwas war bei uns im Raum«, murmelte Will, dabei betastete er die Kratzer auf seinem Gesicht.
Mira kam mit dem Wein zu uns an den Tisch. »Erzähl mir doch mal ganz genau, was da eben passiert ist«, sagte sie zu Will. »Wann hast du gespürt, dass dich jemand kratzt?«
Er dachte einen Moment nach. »Gleich nachdem ich die Rosen gerochen habe. Ihr habt den Duft doch auch bemerkt, oder?«
Wir nickten bestätigend.
»Die Attacke begann also direkt nachdem die Geister in den Raum kamen«, meinte Mira nachdenklich. »Weiß einer von euch, was diese Bänder zu bedeuten haben?«
»Unserer Familiensaga zufolge hat vor langer Zeit ein anderes Medium die Mädchen mithilfe solcher Bänder herbeigerufen. Die Drillinge pflegten sie jeden Tag im Haar zu tragen.«
Wills Augen wurden groß, aber Mira zeigte nicht die geringste Überraschung. »Manchmal teilen uns die Geister etwas mit, indem sie etwas aus der Totenwelt in unserer zurücklassen, das ihnen einst wichtig war. So zeigen sie uns, dass sie da sind. Derartige Dinge kommen ziemlich häufig vor. Manchmal flattert zum Beispiel ein Schmetterling ungewöhnlich lange um uns herum. Eine Frau, die ich kenne, sieht oft einen Adler auf dem Baum vor ihrem
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