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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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Beschmutzung seines Andenkens, die ich auch in Zukunft nicht dulden werde.«
    Ich legte den Artikel nieder und wischte mir ein paar Tränen aus den Augen. »Man muss meine Mutter für ihren Mut bewundern. Ich frage mich, wie die Insulaner sie danach behandelt haben.«
    Will stand auf, schlang von hinten die Arme um mich und drückte mich an sich. »Ich sagte ja schon, dass ich mich an jene Zeit kaum erinnere, aber meine Eltern meinen, die Leute hätten Madlyn als ein weiteres Opfer betrachtet. Sie gaben ihr keine Schuld an den Ereignissen.«
    »Und was ist mit Frank und June Sutton?«, warf ich ein. »Wie soll meine Mutter denn ihren Frieden mit den beiden geschlossen haben? Sie lebte dreißig Jahre mit ihnen zusammen auf dieser kleinen Insel, und immer stand Julies Tod zwischen ihnen.«
    »Sie haben immerhin beide eine Tochter verloren, vergiss das nicht«, gab Will ruhig zu bedenken.
    Allerdings. So etwas verband.
    Ich begann den Polizeibericht durchzugehen, der leider ziemlich lückenhaft war: eine kurze Beschreibung des Tatortes. Mein Vater selbst hatte die Polizei gerufen. Ich war eine Zeugin. Meine Mutter hatte sich nicht im Haus aufgehalten. Nichts, was ich nicht schon wusste.
    Der Bericht enthielt auch eine schriftlich aufgezeichnete Vernehmung von Frank und June Sutton. June hatte Julie an dem besagten Morgen bei uns abgeliefert, damit sie mit mir spielen konnte. Mein Vater hätte sie nach dem Abendessen wieder nach Hause bringen sollen. Abgesehen von dem Umstand, dass ich nach diesem Tag nicht mehr gesprochen hatte, brachten mir auch diese Fakten nichts Neues.
    Aber dann kam ich zu den Fotos des Tatorts, und plötzlich war alles anders. Ich sah mein Kinderzimmer im zweiten Stock, in dem ich am Tag zuvor die Fotos gefunden hatte. Der Polizeibericht war korrekt: In dem Raum herrschte eine heillose Unordnung. Lampen waren umgestoßen, Decken von den Betten gerissen, und überall lagen Bücher verstreut. Ganz offensichtlich hatte tatsächlich ein Kampf stattgefunden.
    Ich spürte es in dem Moment, in dem ich die erste Aufnahme der Szene zu betrachten begann. Eine Hand schloss sich um meine Kehle. Ich fing an zu husten, erst leise, dann immer heftiger. Jemand würgte mich, schnürte mir die Luftröhre zu! Ich sprang auf, stieß dabei meinen Stuhl um und starrte Will mit weit aufgerissenen Augen an.
    »Hallie!« Er stand ebenfalls auf und packte mich bei den Schultern. »Was ist los? Was geht hier vor?«
    Ich bekam keine Luft mehr. Auf meiner Brust lastete ein so enormer Druck, als wäre ich ein Tiefseetaucher mit einer undichten Sauerstoffflasche. Verzweifelt rang ich nach Atem, vermochte meine Lungen aber nicht damit füllen zu können. Ich würde sterben, hier und jetzt, in der Küche meiner Mutter …
    Und dann war es auf einmal vorbei. Einfach so, als sei nie etwas gewesen.
    »Großer Gott, Hallie!«, stieß Will entsetzt hervor. »Soll ich einen Arzt rufen?«
    Ich schüttelte den Kopf und setzte mich wieder. »Ich habe gemeint, meine Kehle schnürt sich zu«, krächzte ich. »So als würde jemand versuchen, mich zu erwürgen. Ich habe keine Luft mehr bekommen.«
    Will durchquerte die Küche und goss mir ein Glas Wasser ein. »Hier.« Er hielt es mir hin. »Wie geht es dir jetzt?«
    Ich leerte das Glas in einem Zug. »Alles wieder in Ordnung.«
    »Weißt du«, meinte Will bedächtig, »du hast ein Foto des Tatorts gesehen, und als Reaktion darauf hat sich deine Kehle zugeschnürt.«
    Ich nickte.
    Er fuhr fort: »Was auch immer an diesem Abend geschehen ist, du hast alles mit angesehen, und das hat dich so traumatisiert, dass du nicht mehr sprechen konntest. Und jetzt hast du auf einmal keine Luft mehr gekommen. Ich glaube, der Anblick dieses Fotos hat dir wohl ein paar Erinnerungen zurückgebracht. Wir sollten jetzt besser erst mal Schluss machen.«
    »Nein!« Ich schüttelte den Kopf. »Was auch immer noch kommt, ich will es sehen.«
    Kurz darauf war ich nahe daran, diese Entscheidung zu bereuen, denn ich stieß nun auf ein Foto des toten Mädchens, das aufgenommen worden war, als ihr Körper verkrümmt auf dem Boden unter dem Fenster des zweiten Stockwerks gelegen hatte. Und ich erkannte das Kind.
    Es war ein Mädchen in einem weißen Kleid. Mit langen Zöpfen, von denen nur einer noch immer von einem weißen Band zusammengehalten wurde.
    Ich ließ das Bild zu Boden fallen, schlug die Hände vors Gesicht und drehte mich zur Wand. Mein Mund öffnete sich, aber ich brachte keinen Laut hervor. Wäre Will

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