Insel der Schatten
nicht bei mir gewesen, hätte ich vielleicht ewig in diesem Schwebezustand zwischen Realität und Trance verharrt, aber er reagierte sofort und nahm mich fest in die Arme. Wie aus weiter Ferne hörte ich ihn meinen Namen sagen.
»Hallie, was ist? Du musst mir sagen, was hier vor sich geht!«
Aber ich brachte die Worte kaum über die Lippen. Ich hatte mir doch fest vorgenommen, Will Iris’ unheimliche Geschichten zu ersparen. Doch schließlich warf ich alle guten Vorsätze über Bord.
»Das ist sie«, wiederholte ich immer wieder.
»Du erkennst Julie? Erinnerst du dich wieder an sie?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Will. Das ist nicht Julie, sondern das Mädchen, das ich neulich hier vor meinem Fenster gesehen habe. Und im Manitou Inn. Ich bin ganz sicher. Sie trägt sogar noch eines der weißen Bänder im Haar.«
Will bückte sich, hob das Foto auf, betrachtete es und runzelte die Stirn. »Was für ein Band?«, fragte er mich.
»Das weiße aus Satin, das ihren Zopf zusammenhält«, erwiderte ich.
Er schüttelte den Kopf, dann hielt er mir die Aufnahme wieder hin. »Hallie, auf diesem Bild sieht man weder Bänder noch Zöpfe. Du musst dich geirrt haben.«
Verwirrt nahm ich ihm das Foto aus der Hand. Ich sah ein kleines, mir bekannt vorkommendes Mädchen, Julie Sutton, das mit zerschmetterten Gliedmaßen auf dem Boden lag. Julies Haar war lockig und schulterlang. Sie trug Jeans und ein T-Shirt. Ihre Augen standen offen, und unter ihrem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet. Kein weißes Kleid, dachte ich benommen, keine weißen Bänder.
Ich biss mir unwillkürlich auf die Lippen, presste das Foto gegen meine Brust, sank zu Boden und begann haltlos zu zittern.
25
Will brachte mich nach oben, ließ mir ein heißes Bad ein und blieb bei mir sitzen, während ich im Wasser lag.
Ich war völlig durcheinander und konnte nicht aufhören zu schluchzen. Der Anblick der Fotos – das des Tatorts und das des toten Mädchens – hatte irgendeinen geheimen Schalter in meinem Inneren umgelegt, der über dreißig Jahre lang auf ›Aus‹ gestanden hatte.
Meine Schultern bebten. »Entschuldigung, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist«, stieß ich zwischen zwei Schluchzern hervor.
»Schsch.« Will rieb mir beruhigend den nackten Rücken. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Der Abend hat dich ziemlich mitgenommen, das ist alles.«
»Es tut mir so leid«, schniefte ich.
»Du hast als Kind einen so schweren Schock erlitten, dass du dich an den Auslöser überhaupt nicht mehr erinnern konntest. Und jetzt siehst du auf einmal Fotos von dem, was damals geschehen ist. Das würde jeden erschüttern.«
Seine Stimme klang warm und tröstlich, und ich begann wieder etwas leichter atmen zu können.
Er fuhr fort: »Kein Wunder, dass du, seit du auf der Insel bist, das Gesicht dieses armen Mädchens überall gesehen hast. Deine Erinnerungen an jene verhängnisvolle Nacht kehren allmählich zurück.«
Fieberhaft rief ich mir all das ins Gedächtnis zurück, was seit meiner Ankunft auf Grand Manitou passiert war. Konnten die verdrängten Erinnerungen wirklich die Erklärung für all die unheimlichen Ereignisse sein?
»Du bist in das Haus zurückgekehrt, in dem dein Trauma letztendlich begonnen hat. Ein Mädchen, deine Freundin , wurde absichtlich getötet oder starb als Folge eines Unfalls, und du hast es mit angesehen. Das war für dich ein so entsetzliches Erlebnis, dass du eine Weile lang aufgehört hast zu sprechen und überdies die Bilder aus deiner Erinnerung gelöscht hast.
Und jetzt bist du wieder hier und wirst gnadenlos mit alldem konfrontiert. Meiner Meinung nach besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei dem Mädchen, das dir erschienen ist, und dem, das getötet wurde, um ein und dieselbe Person handelt.«
Er musste mir meine Verwirrung angesehen haben, denn er erklärte: »Hallie, du erinnerst dich an Einzelheiten des Geschehenen und versuchst, sie zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Du erinnerst dich an Julie.«
»Nein, Will! Das Mädchen, das ich jetzt schon ein paarmal gesehen habe, war nicht Julie Sutton! Und auf dem Foto eben …« Meine Worte verklangen im Raum. Wie sollte ich auch glaubwürdig darlegen, dass ich anfangs das Gesicht eines anderen Mädchens auf dem Bild gesehen hatte?
Er schüttelte den Kopf. »Ich denke, hier kommt dein Unterbewusstsein ins Spiel. Deine Rückkehr auf die Insel hatte zur Folge, dass beim Anblick des Tatorts zum ersten Mal Erinnerungsfetzen in deinem
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