Insel der Schatten
Gedächtnis aufgeblitzt sind.«
Auf eine verquere Weise ergab seine Theorie durchaus einen Sinn. Nun wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich glauben sollte.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte ich leise.
Will überlegte eine Weile. »Im Moment gar nichts, denke ich. Aber wenn ich du wäre, würde ich eventuell eine Regressionstherapie in Erwägung ziehen.«
»Du meinst so etwas wie Hypnose?«
Er nickte. »Ein Psychiater wäre in der Lage, dich in jene Nacht zurückführen. Ans Licht zu bringen, was du damals wirklich gesehen hast. Es könnte eine Art Abschluss für dich sein. Vielleicht könntest du dich dann sogar wieder an deine Kindheit auf der Insel erinnern – und an die Zeit mit deiner Mutter.«
Das klang verlockend.
»Wir müssen einen Psychiater auf dem Festland ausfindig machen, der sich auf diese Dinge versteht«, meinte Will nachdenklich. »Jim Allen, der Inseldoktor, kann uns vermutlich jemanden empfehlen.«
Damit war die Sache also logisch aufgeschlüsselt. Alles, was mir seit meiner Ankunft auf Grand Manitou widerfahren war, war die Folge eines unterdrückten Traumas. Ich sah und hörte keine Geister, und ich lebte auch nicht in einem Spukhaus. Mein Verstand wurde einfach nur von der zurückkehrenden Erinnerung an ein Mädchen heimgesucht, das, als ich fünf Jahre alt gewesen war, vor meinen Augen in den Tod stürzte. Dass ich auf dem bewussten Foto zwei verschiedene Mädchen gesehen hatte, verdrängte ich somit entschlossen. Das zählte jetzt nicht mehr. Eine tiefe Ruhe überkam mich, und ich sank genüsslich tiefer in das warme Wasser.
Doch das Gefühl inneren Friedens sollte nicht lange anhalten.
Nachdem ich aus der Wanne gestiegen war und mich abgetrocknet hatte, kroch ich ins Bett und schlief in Wills Armen rasch ein. Als ich jedoch später in der Nacht aus dem Schlaf hochschrak, stellte ich fest, dass er nicht mehr neben mir lag.
Benommen schielte ich zum Wecker hinüber. Fast halb drei. Wo war Will? Höchstwahrscheinlich im Bad. Ich wartete ein paar Minuten, während derer ich beinahe wieder eingedöst wäre, dann erst keimte wirkliches Unbehagen in mir auf.
»Will?«, rief ich leise, erhielt aber keine Antwort. Ich setzte mich auf und sah mich im Raum um. Niemand. Dann fiel mir auf, dass die Schlafzimmertür offen stand.
Ich schlich in den dämmrigen Flur hinaus. »Will?«
Wieder blieb alles still.
Das durch das Fenster am Ende des Flurs fallende Mondlicht ergoss sich über den Dielenboden und schuf einen silbrigen Fluss, der von einem vibrierenden Eigenleben erfüllt zu sein schien. Und dann sah ich es: Ein kleines Mädchen, das in der Ecke neben dem Fenster stand. Das weiße Kleid. Die an den Enden mit Satinbändern zusammengehaltenen Zöpfe. Und schon im nächsten Moment verschwand die Erscheinung wieder wie Nebel, der von der Mittagssonne aufgelöst wird.
Im selben Augenblick hörte ich ein Krachen, einen furchtbaren Lärm, und wusste sofort, was passiert war. Ich rannte den Flur entlang auf die vordere Treppe zu und rief dabei immer wieder Wills Namen.
Und dann fand ich ihn, verkrümmt und reglos am Fuß der Treppe. Ich kauerte mich neben ihn. »O Gott«, murmelte ich. »Bitte lass ihn nicht ernsthaft verletzt sein!«
Doch Will regte sich und umfasste stöhnend seinen Kopf.
»Dem Himmel sei Dank!«, entfuhr es mir erleichtert. Er lebte, atmete und war bei Bewusstsein. Behutsam half ich ihm auf die Füße. »Hast du dir etwas getan?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er benommen. »Der Sturz war nicht ohne. Ich habe mir ziemlich hart den Kopf angeschlagen.«
Ich führte ihn in die Küche, wobei ich auf dem Weg dorthin jedes verfügbare Licht einschaltete, drückte ihn dort angekommen auf einen Stuhl und holte ihm ein Glas Wasser. Dann begann ich in den Schubladen herumzuwühlen – irgendwo hatte ich doch Schmerztabletten gesehen, das wusste ich genau …
»Hier.« Endlich reichte ich ihm die Packung. »Soll ich einen Arzt rufen?« Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte; ich fürchtete, Will könnte sich eine Gehirnerschütterung zugezogen haben, kannte aber die Symptome nicht.
Er schüttelte den Kopf. »Mir fehlt nichts weiter. Ich war ja noch nicht einmal bewusstlos. Wegen einer kleinen Beule müssen wir Jim nicht mitten in der Nacht aus dem Bett scheuchen.«
»Was ist denn überhaupt passiert? Wieso bist du aufgestanden?«
»Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, erwiderte er, und bei seinen nächsten Worten wich mir schlagartig das Blut aus dem
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