Insel der Schatten
mehr zu denken war, und sah zu, wie er sich mit Pferd und Wagen auf den Weg ins Städtchen machte. Dann zog ich eine Jacke an, setzte mich mit einer Tasse starkem Kaffee auf die Veranda, blickte über das aufgewühlte Wasser hinweg und versank in meinen Gedanken.
»Guten Morgen.« Iris kam aus der Küchentür.
Eigentlich hatte ich sie ohne Umschweife fragen wollen, ob sie irgendeine Verbindung zwischen Wills und Amelias Stürzen sah, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Außerdem schien Iris vor allem daran interessiert, mit ihrer Erzählung fortzufahren, und als sie dazu anhob, wurde ich rasch so in ihren Bann gezogen, dass die Gegenwart zu verblassen schien wie eine meiner Visionen.
»Madlyn Hill wurde an einem Frühlingstag geboren, als überall auf der Insel der Flieder zu blühen begann. Die kleine Maddie betrat diese Welt mit den Füßen voran, und Mutter und Tochter drohten diese Tortur fast nicht zu überleben. Doch Charles gab ihr Kraft und bot ihr Beistand, und so brachte Amelia endlich die beiden zur Welt.«
»›Die beiden‹, Iris?«, unterbrach ich. »Wie meinen Sie das?«
Iris nickte nur. »Zwillinge. Madlyn war gesund, rosig und schrie aus vollem Hals. Erst nachdem sie das Licht der Welt erblickte, erkannte der Arzt, dass seine Arbeit noch nicht beendet war. Kurz darauf entband er ein zweites Mädchen: Sadie.
Ich versorgte Madlyn, als Sadie geboren wurde. Amelia hatten die Anstrengungen und Schmerzen sehr zugesetzt, und Charles machte sich große Sorgen um sie, aber als die Hebamme in sein Arbeitszimmer gestürmt kam und ihm mitteilte, dass seine Frau noch einem Kind das Leben schenken würde, war er außer sich vor Freude. Aber diese Freude hielt nur so lange an, bis er seine zweite Tochter zu Gesicht bekam.«
Iris schloss einen Moment lang die Augen, als wollte sie ein allzu schmerzhaftes Bild ausblenden. Doch dann sprach sie weiter. »Ich werde den Anblick nie vergessen. Sie war so winzig, zart und bläulich wie ein frisch geschlüpfter Vogel. Sadie lebte nur wenige Minuten, ihr Mund öffnete und schloss sich wie der eines an Land geworfenen Fisches. Ich sah sofort, dass sie nicht für diese Welt bestimmt war.
Der Arzt erklärte uns, dass Madlyn während der Zeit im Mutterleib den Großteil der Nährstoffe aufgenommen hatte. Eine furchtbare Vorstellung, finden Sie nicht? Es war, als hätte Madlyn die Lebenskraft ihrer Schwester in sich aufgesogen. Ich wünschte, Amelia hätte diese Erklärung für die unterschiedliche Entwicklung der Zwillinge nicht gehört. Man hätte ihr nur sagen sollen, eines der Mädchen sei tot geboren worden, das hätte später vieles leichter gemacht.«
Ich schloss erschauernd die Augen, weil ich spürte, dass sich eine weitere Vision ankündigte. Wollte ich das?
»Wir begruben Sadie am nächsten Tag neben Hannah und Simeon in der Familiengrabstätte. Der Gottesdienst war kurz, es wurden nur ein paar Gebete gesprochen. Amelia war zu schwach, um daran teilzunehmen. Und obwohl Charles um seine Tochter trauerte, gewann er seine Lebensfreude bald zurück. Mit Amelia verhielt es sich allerdings anders. Sadies Tod verfolgte sie ihr Leben lang. Irgendwo tief im dunkelsten Winkel ihres Herzens war sie davon überzeugt, dass Maddie ihre Schwester getötet hatte.«
»Sie getötet? Absichtlich? Ein kleines Baby? Das ist doch verrückt, Iris!«
»Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Nach der Geburt verfiel Amelia in einen Zustand, der dem Irrsinn sehr nahe kam.«
»Wochenbettdepressionen?«, rätselte ich.
»Amelia verließ ihr Bett tagelang nicht, wusch sich nicht, aß nichts. Sie weigerte sich, das verbleibende Baby zu sehen, es zu halten und zu stillen. Tagsüber warf sie sich unruhig im Bett hin und her, nachts geisterte sie mit ungekämmtem Haar in ihrem weißen Nachthemd durch das Haus. Der arme Charles fand sie mitten in der Nacht im Kinderzimmer, wo sie sich über Maddies Wiege beugte, sie anstarrte und unverständliches Zeug brabbelte. Eine Nacht ertappte er sie sogar, als sie das Baby den Flur entlang zur Treppe hinübertrug.
Da die Erinnerungen an den Wahnsinn seiner Mutter noch frisch waren, bekam Charles fürchterliche Angst um seine Frau, und er fürchtete, sie in eine Anstalt einweisen lassen zu müssen. Deshalb zog er auch keinen Arzt zu Rate und sprach mit niemandem über Amelias absonderliches Verhalten. Ich hielt das von Anfang an für einen Fehler. Amelia beabsichtigte, dem Kind etwas anzutun, das konnte jeder sehen. Auch Charles ahnte es bestimmt.
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