Insel der Schatten
Aber er schien wild entschlossen, allein mit der Situation fertig zu werden, also konnte ich nichts unternehmen.
Darum tat ich wenigstens alles in meiner Macht stehende, um die kleine Maddie vor ihrer Mutter zu schützen. Ich bezog auf einem Stuhl mit harter Rückenlehne im Kinderzimmer Posten, sowie die Sonne unterging, und verließ es erst, wenn es wieder hell wurde. Nacht für Nacht tauchte Amelia in Maddies Zimmer auf, aschfahl und mit wild funkelnden Augen, und Nacht für Nacht schickte ich sie ins Bett zurück. Zum Glück gehorchte sie meinem strengen Befehl meistens, aber manchmal musste ich sie geradezu gewaltsam aus dem Raum hinausbugsieren.«
»Ist meine Großmutter denn dann doch noch in eine Anstalt gekommen?«, wollte ich wissen.
Iris schüttelte den Kopf. »Es dauerte lange, aber schließlich erholte sie sich wieder. Es geschah ganz plötzlich, und niemand konnte sagen, was letztendlich der Auslöser für diese Genesung war. Eines Morgens stand sie ganz einfach aus dem Bett auf, badete und kam in die Küche hinunter, als hätte sie sich aus einem Nebel befreit oder eine schwere Krankheit überstanden. Die dunkle Wolke, die sich über sie gelegt hatte, war verschwunden. Sie lächelte und fragte, wo ihr Mann und ihre Tochter seien, so als hätte es die letzten Monate nie gegeben.
Charles konnte sein Glück kaum fassen. Er stand da, hielt seine Frau in den Armen und ließ seinen Tränen freien Lauf, so erleichtert war er, dass sie die Krise überwunden hatte. Meiner Meinung nach hatte sein liebevoller Umgang mit ihr viel zu ihrer Gesundung beigetragen. All die Monate lang hatte er nicht ein Mal die Geduld verloren.
Aber Amelia wurde dennoch nie wieder so, wie sie vor der Geburt der Kinder gewesen war. Als Charles sie an diesem Tag umarmte, fiel mir ein eigentümlicher Ausdruck in ihren Augen auf. Ich würde nicht so weit gehen, ihn als drohend oder unheilvoll zu bezeichnen, aber irgendetwas schien in ihr zu brodeln. Die Art, wie sie auch jetzt oft noch ihre Tochter ansah, beunruhigte mich.
Innerhalb kürzester Zeit begann Maddie zu krabbeln, dann die ersten unsicheren Schritte zu tun, dann zu laufen, und im Gegensatz zu ihrem Vater fing sie auch schon sehr früh an, munter draufloszuplappern. Aber etwas in ihrer Entwicklung bereitete ihren Eltern und mir trotzdem große Sorgen: Die kleine Maddie sprach hauptsächlich mit einer Person. Ihrer Schwester.
Ihr Vater brachte ihr beispielsweise eines Nachmittags ein Spielzeugtelefon mit, das sie fortan dazu benutzte, um ihre Schwester anzurufen: ›Sadie! Essen! Komm!‹
Das ängstigte Charles und Amelia, denn sie hatten der Kleinen natürlich nie erzählt, dass sie eine Zwillingsschwester gehabt hatte, und ihr schon gar nicht deren Namen genannt. Trotzdem wusste sie beides.
›Mit wem sprichst du denn da, Schätzchen?‹, fragte Charles bei solchen Gelegenheiten, und Maddie pflegte schlicht zu antworten: ›Schwester.‹
Hinter verschlossenen Türen wurden viele erregte Gespräche über dieses seltsame Verhalten geführt, aber letztendlich kam Charles zu der Einsicht, dass sie wohl oder übel damit leben mussten. Maddie und Sadie waren gemeinsam im Leib ihrer Mutter herangewachsen, und seine Tochter schien sich unbegreiflicherweise daran zu erinnern.«
Ich fröstelte, als ich meine Mutter als kleines Kind in angeregter Unterhaltung mit ihrer toten Schwester sah.
»Weder Charles noch Amelia fanden jemals heraus, worin genau der Grund für das absonderliche Benehmen ihrer Tochter lag.« Iris lächelte, ihre Augen leuchteten. »Aber ich wusste es. Während ihrer Zeit im Mutterschoß, als die arme Sadie immer schwächer und Maddie immer kräftiger wurde, hatten die beiden Mädchen einen Pakt geschlossen. Sadie würde keinen Tag in dieser Welt überstehen, also würde Maddie für sie beide leben. Und so reichten sich die Schwestern die Hände, und Maddie rief Sadies Seele zu sich.« Iris legte eine Kunstpause ein und sah mich erwartungsvoll an.
Ich runzelte finster die Stirn. »Was meinen Sie damit, dass sie Sadies Seele zu sich rief?«
»Es war ihre spezielle Gabe, die ihr ihr ganzes Leben lang erhalten blieb.«
»Kommen Sie zum Punkt, Iris!«, sagte ich nun leicht gereizt.
»Wussten Sie nicht, dass Ihre Mutter in ihrem Beruf als ›die Seelenfängerin‹ bekannt war?«
»Ich habe davon gehört, ja. Man nannte sie so, weil sie eine besondere Fähigkeit darin an den Tag legte, das wahre Wesen eines Menschen in ihren Fotos einzufangen.«
»Das ist
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