Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Schatten. Er kann es besser, dachte sie. Dann atmete sie tief aus. Es half, praktisch zu denken, zu kritisieren.
»Das hier hat er verwackelt. An dieser Stelle im Sumpf hatte er keine Deckung. Wahrscheinlich wollte er nicht, daß ich ihn sehe, also mußte er sich beeilen.«
»Braves Mädchen. Und wann warst du zum letztenmal dort?«
»Erst vor ein paar Tagen. Aber ich hatte mein Stativ nicht mit.« Mit gerunzelter Stirn dachte sie nach. »Es muß mindestens zwei Wochen her sein. Nein, eher sogar drei Wochen. Ja, drei. Ich war bei Ebbe draußen, um die Priele zu studieren. Laß mich mal ein anderes Foto betrachten.«
»Ich weiß, daß du das jetzt nicht gern hörst, aber das hier gefällt mir richtig gut.« Lächelnd reichte Kate ihr ein Bild, auf dem Jo in Sams Schoß lag. Wie ein Muster lagen Licht und Schatten über ihnen und gaben der Aufnahme einen traumähnlichen Ausdruck.
»Das war auf dem Campingplatz«, murmelte Jo. »An dem Tag, als mich jemand in den Duschen eingeschlossen und Daddy mich befreit hat. Es waren also doch keine Kinder. Dieses Schwein. Es waren keine Kinder, sondern er. Er hat mich eingeschlossen und sich dann versteckt, um dieses Bild zu machen.«
»War das nicht an dem Tag, an dem Ginny verschwunden ist? Das ist jetzt fast zwei Wochen her.«
Wieder kniete sich Jo auf den Boden, aber diesmal geriet sie nicht in Panik. Kühl und konzentriert ging sie Foto für Foto durch. »Ich kann nicht alle sicher identifizieren, aber die, die ich eindeutig erkenne, sind vor mindestens zwei Wochen gemacht worden. Also gehe ich davon aus, daß das auch auf alle zutrifft. Er hat sie so lange zurückgehalten. Er hat gewartet. Warum?«
»Er hat Zeit gebraucht, um sie zu entwickeln. Um zu entscheiden, welche er dir schickt. Er muß noch andere Verpflichtungen haben. Vielleicht einen Job. Irgend etwas.«
»Nein, ich glaube, daß er ziemlich flexibel ist. Er hat mich bei einem Auftrag auf Hatteras und mehrmals in Charlotte fotografiert. Alltägliche Situationen. Ich denke, daß er jede Menge Zeit hat.«
»Okay. Hol deine Tasche. Wir nehmen das Boot, fahren rüber
aufs Festland und gehen mit all diesen Aufnahmen zur Polizei.«
»Du hast recht. Das ist besser, als hier rumzusitzen und Angst zu haben.« Vorsichtig schob sie die Fotos eines nach dem anderen zurück in den Umschlag. »Es tut mir leid, Kate.«
»Was tut dir leid?«
»Daß ich dir nicht eher davon erzählt habe. Daß ich mich dir nicht anvertraut habe.«
»Schon gut.« Kate streckte die Hand aus, um Jo auf die Beine zu helfen. »Jetzt haben wir es ja hinter uns. Und von nun an wirst du dich und wird jeder in diesem Haus sich daran erinnern, daß wir eine Familie sind.«
»Ich weiß nicht, wie du es so lange bei uns ausgehalten hast.«
»Tja, meine Süße«, erwiderte Kate und tätschelte Jos Wange, »das frage ich mich manchmal auch.«
Neunzehn
»Hey, wohin geht ihr?« Lexy sah Kate und Jo aus dem Haus kommen. Auf ihrem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln – sie schien auf Wolken zu schweben.
»Jo und ich haben drüben auf dem Festland etwas zu erledigen«, antwortete Kate. »Wir sind gegen…«
»Ich komme mit.« Lexy sauste an den beiden vorbei ins Haus, bevor Kate sie aufhalten konnte.
»Lexy, das ist kein Vergnügungsausflug.«
»Fünf Minuten«, rief Lexy. »In fünf Minuten bin ich fertig.«
»Dieses Mädchen«, seufzte Kate. »Immer will sie dabeisein. Ich werde ihr klarmachen, daß sie diesmal hierbleibt.«
»Nein«, entgegnete Jo entschlossen. »Unter den gegebenen Umständen ist es besser, wenn sie Bescheid weiß. Auch sie muß vorsichtig sein, bis wir mehr herausgefunden haben.«
Kates Herz setzte einen Schlag lang aus, dann nickte sie. »Wahrscheinlich hast du recht. Ich sage Brian Bescheid, daß wir fahren. Mach dir keine Sorgen, mein Schatz.« Kate strich Jo über das Haar. »Das kriegen wir geregelt.«
Aus Sorge, Kate und Jo könnten ohne sie losziehen, stand Lexy zu ihrem Wort. Da sie wußte, daß Kate nicht viel von den knappen Shorts hielt, sprang sie in Rekordzeit in eine Baumwollhose, bürstete rasch durch ihr Haar und band es mit einem grünen Schal zusammen. Auf der Fahrt zur Anlegestelle, wo die Privatboote lagen, frischte sie ihr Make-up auf und plauderte in einem fort.
Als die drei an Bord des zuverlässigen alten Motorboots gingen, klangen Jo die Ohren.
Früher hatte hier ein weißes Boot mit leuchtendroten Streifen gelegen. Die Island Belle war Daddys ganzer Stolz gewesen. Wie oft hatten sie
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