Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
erfahren, auch auf die Gefahr hin, daß sie nicht mit dem Schmerz leben kann? Wenn ich’s ihr sage, verliere ich sie, aber ich weiß nicht, ob ich mit ihr leben kann, ohne es ihr zu sagen.«
»Liebt sie Sie?«
»Sie beginnt, mich zu lieben. Wenn ich nichts dagegen unternehme, wird sie sich in mich verlieben.« Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Ihr würde es nicht gefallen, das zu hören. Als ob es unvermeidlich sei, als ob sie keine Kontrolle darüber hätte.«
Kauffman hörte die Wärme in Nathans Stimme zurückkehren. Er hatte den Jungen immer besonders gemocht. Mehr noch als seine eigenen Enkel. »Aha, eine unabhängige Frau. Das sind immer die interessantesten – und die schwierigsten.«
»Sie ist faszinierend – aber sie ist alles andere als einfach. Sie ist sehr stark, selbst wenn sie verletzt ist. Und sie ist tief verletzt. Sie hat eine Mauer um sich herum errichtet, aber in den vergangenen Tagen hat die Mauer erste Risse bekommen. Vielleicht habe ich dazu beigetragen. Und tief in ihrem Innern ist sie sehr weich und mitfühlend.«
»Sie haben bisher mit keinem Wort ihr Äußeres erwähnt.« Diese Tatsache war für Kauffman die wichtigste. Der äußere
Schein hatte ihn zu drei Ehen verleitet, und jeder dieser Ehen war die Scheidung gefolgt. Für ein glückliches gemeinsames Leben waren mehr als Äußerlichkeiten gefragt.
»Sie ist wunderschön«, sagte Nathan einfach. »Sie wäre lieber ganz normal und durchschnittlich, aber das ist sie nicht. Jo traut äußerer Schönheit nicht. Sie baut auf Kompetenz, Wissen und Ehrlichkeit.« Resigniert starrte Nathan in den Brandy, den er kaum angerührt hatte. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Die Wahrheit ist nobel, aber sie ist nicht immer angebracht. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen, aber ich habe immer fest daran geglaubt, daß wahre Liebe stärker als alles andere ist. Vielleicht sollten Sie sich fragen, was mehr Liebe verlangt: die Wahrheit oder das Schweigen.«
»Aber wenn ich schweige, dann hat das Fundament, auf dem wir aufbauen, schon einen Riß. Ich bin der einzige Mensch, der es ihr sagen kann, Doktor Kauffman.« Nathan hob den Blick. »Ich bin der einzige, der übrig ist.«
Am nächsten Tag kehrte Nathan nicht zurück auf die Insel. Auch nicht am Tag darauf. Am dritten Tag war Jo zu der Überzeugung gelangt, daß es egal war. Sie hatte Besseres zu tun, als auf ihn zu warten.
Am vierten Tag verfluchte sie sich dafür, daß sie morgens und abends zur Anlegestelle gelaufen war. Und nach einer Woche war ihre Laune so miserabel, daß sie jeden anfuhr, der es wagte, sie anzusprechen.
In der Hoffnung, den Frieden wiederherstellen zu können, wagte sich Kate nach einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Jo und Lexy in die Höhle des Löwen.
»Warum verkriechst du dich an einem so herrlichen Morgen in deinem Zimmer?« fragte Kate und riß mit einem Ruck die Vorhänge zur Seite, so daß das Sonnenlicht in den Raum flutete.
»Ich will meine Ruhe haben. Und wenn du glaubst, ich würde mich bei Lexy entschuldigen, dann täuschst du dich.«
»Ihr beiden könnt euch so viel streiten, wie ihr wollt, solange ihr mich aus dem Spiel laßt. Aber ich habe etwas dagegen, daß du in diesem Ton mit mir sprichst, junge Dame.«
»Entschuldige«, sagte Jo kühl, »aber dies ist mein Zimmer.«
»Das ist mir ganz egal – du hast dich anständig zu benehmen. Seit Tagen beobachte ich nun schon, wie du deine Umwelt tyrannisierst. Jetzt reicht’s.«
»Dann sollte ich wohl langsam wieder abreisen.«
»Das ist deine Entscheidung. Mein Gott, Jo Ellen, der Mann ist kaum eine Woche weg und taucht sicher bald wieder auf.«
»Ich weiß nicht, von wem du sprichst.«
Bevor Kate es verhindern konnte, platzte es aus ihr heraus. »Für wie dumm hältst du mich eigentlich, Jo Ellen? Ich bin immerhin ein paar Jahre älter als du.« Mit einem Seufzer ließ sich Kate neben Jo auf die Bettdecke fallen. »Ein Blinder mit Krückstock sieht, daß du dich in Nathan Delaney verguckt hast. Und das ist das Beste, was dir seit Jahren passiert ist.«
»Ich habe mich in niemanden verguckt – auch nicht in Nathan Delaney.«
»Soll er bei seiner Rückkehr etwa erfahren, daß du während seiner Abwesenheit mißgelaunt durch die Gegend geschlichen bist?« Kate bemerkte erfreut, daß Jo einen roten Kopf bekam. »Es gibt hier einige, die es ihm brühwarm berichten würden, wenn du so weitermachst. Ich würde ihm diese Genugtuung nicht
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