Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
das ist es doch, was ihn antreibt, oder? Die perfekte Kontrolle.«
Den Augenblick kontrollieren, die Stimmung, das Motiv, das Ergebnis manipulieren. Das ist die wahre Macht der Kunst. Nathan erinnerte sich an die Worte seines Vaters aus dem Tagebuch.
»Ja, es geht um Kontrolle. Wir werden alle Händler für Fotobedarf anrufen, um herauszufinden, ob jemand eine Dunkelkammerausrüstung bestellt und nach Savannah hat liefern lassen. Es wird nicht leicht sein und nicht schnell gehen.«
»Stimmt, aber es ist wenigstens ein Anfang.« Bei dem Gedanken, endlich etwas unternehmen zu können, ging es Jo schon viel besser. »Wahrscheinlich ist er allein. Er braucht die Freiheit, kommen und gehen zu können, wie es ihm paßt. Er hat mich hier auf der Insel an allen möglichen Stellen fotografiert, also kann er sich frei bewegen. Am besten halten wir nach einem Mann Ausschau, der allein mit einer Kamera unterwegs ist. Auch auf die Gefahr hin, daß es nur ein Vogelliebhaber ist.«
»Wenn es Kyle ist, würde ich ihn sofort erkennen.«
»Bist du dir da sicher? Auch wenn er alles daran setzt, nicht erkannt zu werden? Ich bin überzeugt, daß er weiß, daß du hier bist. Und daß wir zusammen sind. Annabelle Hathaways Tochter und David Delaneys Sohn. Vielleicht schließt sich für ihn auf diese Weise der Kreis. Und wenn das wirklich so ist, Nathan, dann bist du genauso in Gefahr wie ich.«
Siebenundzwanzig
Gegen Mittag wachte Jo allein auf. Sie konnte sich weder erinnern, wann sie länger als bis zehn Uhr, noch wann sie jemals so tief und traumlos geschlafen hatte.
Sie fragte sich, ob sie sich nicht ruhelos, erschöpft oder verzweifelt hätte fühlen sollen. Aber vielleicht hatten diese Gefühle sie schon lange genug gequält und waren nun, da sie die Wahrheit kannte, überflüssig geworden. Jetzt konnte sie um ihre Mutter trauern.
Und mehr noch: Sie konnte um all die Jahre trauern, in denen sie ihre Mutter verdammt hatte, eine Frau, die nicht die geringste Schuld auf sich geladen hatte, sondern Opfer eines Wahnsinnigen geworden war.
Jetzt konnte sie Trost finden.
»Er liebt mich, Mama«, flüsterte sie. »Vielleicht ist das der Weg, auf dem uns das Schicksal für seine Grausamkeit entschädigt. Ich bin glücklich. Ganz egal, wie verrückt die Welt jetzt ist, ich bin glücklich mit ihm.«
Sie schwang die Beine aus dem Bett und schwor sich, daß sie von nun an zusammenstehen und kämpfen würden.
Nathan führte gerade ein weiteres Telefonat – diesmal mit dem amerikanischen Konsulat in Nizza. Er hatte nicht geschlafen. Seine Augen brannten. Er kam sich vor, als würde er im Kreis herumirren, in verzweifelter Suche nach Informationen, nach einem Hinweis, den er vor ein paar Monaten übersehen hatte.
Und die ganze Zeit nagte das schlechte Gewissen an ihm, daß er insgeheim hoffte, sein Bruder möge tatsächlich tot sein.
Die Schritte auf der Treppe ließen ihn aufblicken. Als er auf der Veranda Giff auftauchen sah, zwang er sich zu einem Lächeln. Nachdem er aufgelegt hatte, winkte er Giff herein.
»Ich will nicht stören«, sagte Giff.
»Kein Problem, ich bin fertig.«
»Ich bin auf dem Weg zum Live Oak Cottage und wollte dir nur schnell diese Pläne hier geben. Du hast doch neulich gesagt, es würde dir nichts ausmachen, den Entwurf zu begutachten, den ich für das neue Solarium in Sanctuary angefertigt habe.«
»Ja, das interessiert mich sehr.« Dankbar für die Abwechslung nahm Nathan die Pläne entgegen und rollte sie auf dem Küchentisch aus. »Ich hab’ angefangen, mir selbst ein paar Gedanken dazu zu machen, aber dann kam etwas dazwischen.«
»Soso.« Giff zwinkerte vergnügt, als Jo an der Schlafzimmertür erschien. »Verstehe. Guten Morgen, Jo Ellen.«
Sie konnte nur hoffen, daß sie nicht rot anlief, als beide Männer sie anstarrten. Sie hatte eines von Nathans T-Shirts angezogen, und obwohl es ihr bis zu den Oberschenkeln reichte, war sie sicher, man sähe, daß sie darunter nichts anhatte.
»Morgen, Giff.«
»Ich wollte nur schnell was abgeben.«
»Oh, kein Problem, ich … ich hol mir nur schnell einen Kaffee.« Sie huschte zum Küchentresen und goß sich eine Tasse ein. »Bin gleich wieder weg.«
Giff war sicher, daß Lexy ihn später nach Details löchern würde, also wagte er einen Vorstoß. »Willst du nicht auch einen Blick auf die Pläne werfen? Du weißt doch, Kate schwebt etwas Besonderes vor, und du hast doch ein gutes Auge für so was.«
Höflich sein oder Würde bewahren? Eine
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