Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
gehen.«
»Laßt ihn zu Ende sprechen.« Lexy wischte sich die Tränen aus dem Gesicht; ihre Stimme klang überraschend fest und entschlossen. »Ginny ist nicht einfach nur weggelaufen, das hat mir mein Gefühl die ganze Zeit schon gesagt. Ihr ist dasselbe passiert wie Mama, nicht wahr, Nathan? Und wie Susan Peters.«
Sie faltete die Hände im Schoß, um sich zu sammeln, und wandte sich dann zu Jo. »Du hast hier Fotos bekommen. Fotos, die hier auf der Insel aufgenommen wurden. Es wiederholt sich.«
»Du kannst mit einer Kamera umgehen, Nathan.« Brians Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.
Es tat weh, diese Worte aus dem Mund eines Freundes zu hören. »Du hast keinen Grund, mir zu trauen, aber du solltest mich trotzdem anhören.«
»Laß mich es erklären, Nathan.« Jo ließ einen Schluck Wein durch ihre trockene Kehle rinnen.
Jo ließ in ihrer Schilderung keine noch so geringe Einzelheit aus und endete mit den Schritten, die sie gemeinsam mit Nathan unternehmen wollte, um auch die restlichen Antworten zu finden.
»Sein Vater hat also unsere Mutter umgebracht«, faßte Brian mit bitterer Stimme zusammen, »und sein Bruder ist für den Rest verantwortlich. Na prima.«
»Wir wissen noch nicht, wer für den Rest verantwortlich ist. Aber falls es tatsächlich Nathans Bruder ist, ist Nathan nicht dafür verantwortlich.« Jo ging auf Brian zu. »Jemand hat mir kürzlich eine Parabel von Äpfeln erzählt, die vom Baum fallen. Und daß manche stark genug sind, um wegzurollen, während die faulen unter dem Baum liegenbleiben.«
»Dreh mir nicht das Wort im Mund um«, antwortete Brian wütend. »Sein Vater hat unsere Mutter ermordet und unser Leben zerstört. Jetzt gibt es eine weitere Tote, vielleicht sogar zwei. Und du erwartest von uns, daß wir ihm auf die Schulter
klopfen und ihm vergeben? Das kann nicht dein Ernst sein.«
Zornig verließ er den Raum.
»Ich kümmere mich um ihn.« Einen Augenblick blieb Lexy vor Nathan stehen und betrachtete ihn aus ihren rotgeweinten Augen. »Er ist der Älteste von uns, und vielleicht hat er sie am meisten von uns allen geliebt. Aber er täuscht sich, Nathan. Es gibt nichts, was wir dir vergeben müßten. Du bist auch nur ein Opfer, so wie wir alle.«
Bewundernd blickte Kate ihr nach. »Wer hätte gedacht, daß sie so sensibel ist.« Dann seufzte sie. »Wir brauchen etwas Zeit, Nathan.«
»Ich gehe mit dir«, begann Jo, doch Nathan schüttelte den Kopf.
»Nein, du bleibst hier bei deiner Familie. Wir alle brauchen Zeit.« Er drehte sich um und blickte Sam ins Gesicht. »Wenn Sie mir noch etwas sagen möchten …«
»Ich weiß, wo ich Sie finden kann.«
Mit einem kurzen Nicken verließ Nathan den Raum.
»Daddy …«
»Ich habe dir jetzt nichts zu sagen, Jo Ellen. Du bist eine erwachsene Frau, aber im Moment lebst du unter meinem Dach. Ich bitte dich, auf dein Zimmer zu gehen und mich allein zu lassen.«
»Ich weiß, was du fühlst, und ich weiß, wie weh es tut. Du brauchst Zeit, um es zu verarbeiten.« Sie wich seinem Blick nicht aus. »Aber ich werde sehr enttäuscht sein, wenn du nach dieser Zeit immer noch den Sohn für die Schuld des Vaters verantwortlich machst.«
Ohne zu antworten verließ Sam den Raum.
»Geh jetzt auf dein Zimmer, Jo.« Kate legte die Hand auf Jos Schulter. »Ich werde tun, was in meiner Macht steht.«
»Machst auch du ihn dafür verantwortlich, Kate?«
»Ich weiß im Augenblick nicht, was ich denken oder fühlen soll. Ich weiß, daß der Junge leidet, aber Sam leidet auch. Mein Mitgefühl gilt zuerst ihm. Geh jetzt, und zwing mich nicht zu Antworten, die ich im Moment selbst noch nicht kenne.«
Kate fand Sam auf der Veranda, die Hände auf dem Geländer ruhend und in die Nacht starrend. Wolken waren aufgezogen; sie verdeckten den Mond und die Sterne. Ohne Licht zu machen, trat sie hinter ihn.
»Nun trauere ich wieder.« Seine Hände glitten rastlos über das Geländer. »Es ist nicht richtig, daß ich noch einmal um sie trauern muß.«
»Nein, das ist es nicht.«
»Ist es ein Trost, daß sie die Kinder und mich nicht verlassen hat? Daß sie nicht einfach weggelaufen ist und uns vergessen hat? Wie kann ich all die häßlichen Gedanken zurücknehmen, all die Nächte, in denen ich sie als egoistisch und herzlos verflucht habe?«
»Diese Gedanken sind nicht deine Schuld, Sam. Du hast geglaubt, was auf der Hand lag. Eine Lüge zu glauben setzt dich nicht ins Unrecht. Die Lüge ist unrecht.«
Er richtete sich auf. »Wenn du mir
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