Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
hatte.
»Entschuldigung, tut mir leid«, keuchte Ginny, während Kirby in das Wohnzimmer trat, das außerdem als Wartezimmer diente. »Gerade als ich gehen wollte, klingelte das Telefon.«
Sie war Mitte Zwanzig, und Kirby hatte ihr schon tausend Mal zu erklären versucht, daß sich ihr Faible für die Sonne in zehn Jahren bitter rächen würde.
Sie hatte schulterlanges weißblondes, gnadenlos kräuseliges Haar, das nach einem Radikalschnitt schrie.
Ginny stammte aus einer Fischerfamilie, und obwohl sie das Boot geschickt wie ein Pirat steuern, Fische so professionell wie ein Chirurg ausnehmen und Austern mit atemberaubender Geschwindigkeit öffnen konnte, arbeitete sie lieber auf dem Heron-Campingplatz, wies den Touristen die Plätze zu, half Neuankömmlingen beim Zeltaufbau und kümmerte sich um die Buchhaltung.
»Immer komme ich zu spät«, stöhnte Ginny mit ihrem entwaffnenden Grinsen, das Kirby zum Lachen brachte.
»Und jeder weiß es. Also los jetzt. Zuerst ins Glas pinkeln,
das kennst du ja schon. Dann kommst du wieder ins Untersuchungszimmer, ziehst dich aus und schlüpfst in die Schürze, die Öffnung nach vorne. Wenn du fertig bist, sagst du Bescheid.«
»Ist gut. War übrigens Lexy, die angerufen hat«, rief Ginny, während sie in ihren Cowboystiefeln über den Flur zur Toilette stapfte. »Sie fühlt sich irgendwie gereizt.«
»Nichts Neues bei Lexy«, antwortete Kirby.
Ginny erzählte munter weiter, während sie die Toilette verließ und das Sprechzimmer betrat.
»Jedenfalls kommt Lexy heute abend gegen neun vorbei.« Der erste Cowboystiefel polterte zu Boden. »Nummer zwölf ist im Augenblick frei – mein Lieblingsplatz. Wir wollen ein Lagerfeuer machen und zwei Six-Packs knacken. Hast du auch Lust?«
»Danke für die Einladung.« Erneutes Poltern. »Mal sehn. Falls ich vorbeikomme, bringe ich auch ein Six-Pack mit.«
»Ich wollte, daß Jo mitkommt, aber du weißt ja selbst, wie zickig Lex da ist. Ich hoffe, Jo kommt trotzdem.« Ginny schnappte nach Luft, und Kirby stellte sich vor, wie sie sich gerade aus ihrer Jeans schälte. »Hast du sie schon gesehen? Jo, meine ich.«
»Nein, ich wollte im Lauf des Tages mal vorbeischauen.«
»Ganz schön dicke Luft bei denen. Keine Ahnung, warum Lex so sauer auf Jo ist. Irgendwie scheint sie im Augenblick sauer auf so ziemlich jeden zu sein, der ihr übern Weg läuft. Sogar auf Giff. Wenn mich ein Typ wie Giff so anschauen würde, dann würde ich Freudensprünge machen. Und das sage ich nicht, weil Giff mein Cousin ist.«
»Giff wird sie schon weich bekommen, jede Wette«, bemerkte Kirby, während sie die Patientenakte aus dem Halter nahm. »Er ist mindestens so dickköpfig wie sie. So, und jetzt auf die Waage. Irgendwelche Beschwerden, Ginny?«
»Nein, fühle mich prima.« Ginny stieg auf die Waage und kniff die Augen fest zu. »Sag mir bitte nicht, wieviel.«
Lächelnd schob Kirby das Gewicht nach rechts, noch ein bißchen, noch ein bißchen. Hoppla, fast achtzig Kilo.
»Sag mal, Ginny, treibst du eigentlich Sport?«
Die Augen noch immer geschlossen, trat Ginny unruhig von einem Bein aufs andere. »Quasi.«
»Aerobic. Dreimal pro Woche zwanzig Minuten. Und nicht mehr so viele Süßigkeiten.« Kirby schob das Gewicht gehorsam auf Null, bevor Ginny die Augen öffnete. »So, und jetzt der Blutdruck.«
»Vielleicht kaufe ich mir das Jane-Fonda-Video. Was hältst du übrigens von diesem Fettabsaugen?«
Kirby pumpte die Armmanschette auf. »Ich denke, du solltest ein paarmal pro Woche Strandläufe machen und dir eine Zeitlang einfach vorstellen, Möhren wären Schokoriegel. Auf die Weise verlierst du die überschüssigen fünf Pfund genauso schnell. Der Blutdruck ist in Ordnung. Wann war deine letzte Periode?«
»Vor zwei Wochen. Allerdings fast eine Woche zu spät. Ich hatte eine Scheißangst.«
»Aber du benutzt doch dein Diaphragma, oder?«
Ginny verschränkte die Arme vor der Brust. »Na ja, meistens. Aber manchmal stört’s eben.«
»Eine Schwangerschaft aber auch.«
»Ich mach’s nur mit Kondom. Ohne Ausnahme. Auf Platz sechs sind grade ein paar nette Typen angekommen.«
Seufzend schlüpfte Kirby in ihre Untersuchungshandschuhe. »Gleich mit jedem zu schlafen kann ganz schön gefährlich werden.«
»Ich weiß, es macht aber verdammt viel Spaß.« Lächelnd betrachtete Ginny das Monet-Poster, das Kirby an der Decke festgetackert hatte. »Und in die meisten bin ich auch ein bißchen verknallt. Früher oder später wird mir schon
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