Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
und du wirst diese Augenblicke niemals verlieren.
»Wie viele haben wir trotzdem verloren?« fragte sich Nathan laut. »Und wie viele haben wir aufbewahrt, die wir besser verloren hätten?«
»Wie bitte?«
Nathan fuhr herum, als ihn die Stimme aus seinen Gedanken riß und er eine Hand an seinem Arm spürte. »Was?« Rasch trat er einen Schritt zurück und erwartete, einen seiner Geister vor sich zu sehen. Statt dessen erblickte er eine hübsche, schlanke Blondine, die ihn durch ihre getönten Gläser anschaute.
»Entschuldigen Sie, ich habe Sie erschreckt.« Sie neigte den Kopf zur Seite, aber ihre Augen blieben fest auf sein Gesicht gerichtet. »Alles klar bei Ihnen?«
»Ja.« Nathan fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das zittrige Gefühl in seinen Beinen ignorierend. Wesentlich schwerer ignorieren ließ sich das peinliche Gefühl, das sich bei ihm einstellte, als die Frau fortfuhr, ihn unverhohlen zu studieren wie ein Insekt unterm Mikroskop. »Ich habe nicht gewußt, daß jemand hier ist.«
»Meine morgendliche Joggingrunde«, erklärte sie ihm, und erst jetzt bemerkte er, daß sie ein durchgeschwitztes, graues T-Shirt und eine bequeme, rote Radlerhose trug. »Das Cottage, durch das Sie eben gestarrt haben, gehört mir.«
»Aha.« Nathan richtete erneut den Blick auf die silbrig schimmernden Zedernschindeln, auf das geschwungene braune Dach mit dem als Balkon dienenden Vorsprung. »Eine tolle Aussicht haben Sie da.«
»Am besten sind die Sonnenaufgänge. Sind Sie wirklich sicher, daß bei Ihnen alles klar ist?« fragte sie ihn noch mal. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen auf die Nerven gehe, aber wenn ich einen Mann allein am Strand stehen und Selbstgespräche führen sehe, werde ich stutzig. Ist mein Job«, fügte sie hinzu.
»Küstenwache?« erkundigte er sich trocken.
»Nein.« Lächelnd streckte sie ihm die Hand entgegen. »Ärztin. Doktor Fitzsimmons. Kirby Fitzsimmons. Ich führe meine Praxis im Cottage.«
»Nathan Delaney. Medizinisch gesund. Hat hier früher nicht eine alte Dame gewohnt? Eine kleine, schmale Frau mit weißem Dutt?«
»Ja, meine Großmutter. Haben Sie sie gekannt? Stammen Sie etwa von hier?«
»Nein, nein, ich erinnere mich bloß an sie. Ich habe als Junge hier auf der Insel einen Sommer verbracht. Und jetzt kommen viele Erinnerungen zurück. Sie sind gerade mitten in eine hineingeplatzt.«
»Oh.« Die Augen hinter den getönten Gläsern verloren ihr klinisches Interesse und blickten wärmer drein. »Das erklärt einiges. Ich weiß, wovon Sie sprechen. Ich habe viele Sommerferien hier verbracht, und die ganze Zeit kommen mir Erinnerungen. Deshalb habe ich nach dem Tod meiner Großmutter beschlossen, mich hier niederzulassen. Ich habe die Insel immer geliebt.«
Geistesabwesend streckte sie ihr Bein nach hinten aus, griff nach dem Fuß und zog die Ferse an den Po. »Dann sind Sie also der Yankee, der sich für ein halbes Jahr im Little Desire Cottage eingemietet hat.«
»Hat sich offenbar rumgesprochen.«
»Wundert Sie das? Die Insel ist winzig klein, und es passiert nicht allzu oft, daß ein alleinstehender Mann ein halbes Jahr hierbleibt. Die Damenwelt hier ist neugierig.« Kirby wiederholte die Übung mit dem anderen Bein. »Ich glaube, ich erinnere mich sogar an Sie. Sind Sie und Ihr Bruder nicht mit Brian Hathaway herumgezogen? Ich erinnere mich, wie meine Oma mal gesagt hat, daß die Delaney-Jungs und Brian zusammenhalten wie ein Klumpen Dreck.«
»Gutes Gedächtnis. Sie waren in diesem Sommer also auch hier?«
»Ja, es war mein erster Sommer auf der Insel. Deshalb kann ich mich wohl auch so gut an alles erinnern. Haben Sie Brian schon gesehen?« erkundigte sie sich beiläufig.
»Er hat mir gerade ein Frühstück gemacht.«
»Sein Frühstück ist göttlich.« Jetzt war es Kirby, die durch ihr Cottage hindurchschaute. »Ich habe gehört, daß Jo wieder hier ist. Ich werde heute abend nach der Praxis mal vorbeischauen.« Sie blickte auf die Uhr. »Und da in zwanzig Minuten meine Sprechstunde beginnt, mache ich mich mal besser auf die Socken. Es war nett, Sie wiederzusehen, Nathan.«
»Schön, Sie kennenzulernen. Doc«, fügte er hinzu, während sie sich in Bewegung setzte.
Lachend drehte sie sich noch einmal zu ihm um und joggte rückwärts. »Allgemeinpraxis«, rief sie ihm zu. »Von der Wiege bis zur Bahre. Kommen Sie vorbei, wenn’s bei Ihnen kneift.«
»Werd’s mir merken.« Er lächelte ihr nach und beobachtete noch eine Weile ihren fröhlich wippenden
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