Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Pferdeschwanz.
Neunzehn Minuten später zog sich Kirby ihren weißen Kittel über die Levi’s. Den Arztkittel betrachtete sie als eine Art Tradition; er half ihr, mißtrauischen Patienten klarzumachen, daß sie wirklich Ärztin war. Der Kittel und das um ihren Hals baumelnde Stethoskop signalisierten den Insulanern, daß es schon seine Richtigkeit hatte, daß Mrs. Fitzsimmons’ kleine Enkelin ihnen in den Körperöffnungen herumstocherte.
Sie betrat ihr Büro – ehemals die immer gut gefüllte Speisekammer ihrer Großmutter. An einer Wand hatte Kirby die alten Regale stehenlassen; sie beherbergten nun Bücher und Unterlagen und das praktische kleine Faxgerät, das sie mit dem Festland verband. Die anderen Regale hatte sie herausgenommen, denn sie plante nicht, dem Beispiel ihrer Großmutter zu folgen und von eingeweckten Tomaten bis hin zu süßsaurer Wassermelone alles mögliche zu lagern.
Eigenhändig hatte sie den kleinen, liebevoll polierten Kirschholz-Schreibtisch in den Raum geschleppt. Sie hatte ihn als eines von wenigen Stücken aus Connecticut mit auf die Insel genommen. Auf der Platte befanden sich eine in Leder gefaßte Schreibunterlage und ein dazu passender Terminkalender – das Abschiedsgeschenk ihrer konsternierten Eltern.
Ihr Vater war auf Desire groß geworden und betrachtete es als Glück, der Insel entkommen zu sein.
Sie wußte, daß ihre Eltern angesichts ihres Entschlusses, in die väterlichen Fußstapfen zu treten und Medizin zu studieren, geradezu entzückt gewesen waren. Und sie hatten fest damit gerechnet, daß ihre Tochter in seine renommierte, auf Herzchirurgie spezialisierte Privatpraxis eintreten und auch den von ihnen so geliebten luxuriösen Lebensstil übernehmen würde.
Statt dessen hatte sie sich für Allgemeinmedizin, für das windschiefe Cottage ihrer Großmutter und das einfache Inselleben entschieden.
Sie hätte nicht glücklicher sein können.
Ihre ersten Wochen in der neueröffneten Praxis hatte Kirby damit verbracht, Bleistifte zu spitzen, um sie anschließend auf der Schreibunterlage wieder stumpf zu kritzeln.
Aber sie hatte durchgehalten, und allmählich verwendete sie die Bleistifte immer öfter dazu, Termine in den Kalender einzutragen. Ein hustendes Baby, eine arthritisgeplagte ältere Dame, ein Kind mit Masern.
Zuallererst hatten sich ihr entweder ganz junge oder ganz alte Patienten anvertraut. Nach und nach waren dann auch die anderen mit ihren alltäglichen Wehwehchen zu ihr gekommen. Jetzt war sie als Doc Kirby bekannt, und die Praxis trug sich.
Kirby warf einen Blick in ihren Terminkalender. Ein gynäkologischer Routine-Check, eine Nachuntersuchung einer schweren Nebenhöhlenentzündung, schon wieder die Matthews-Jungen mit ihren üblichen Ohrenschmerzen, und dann noch das Simmons-Baby zur nächsten Impfung. Ihr Wartezimmer platzte zwar nicht gerade aus allen Nähten, aber immerhin war sie am Vormittag beschäftigt. Und außerdem, wer wußte das vorher schon, konnten sich im Laufe des Tages auch noch akute Notfälle in ihrer Praxis einfinden.
Ginny Pendleton hatte den Zehn-Uhr-Termin für die gynäkologische Untersuchung, was bedeutete, daß Kirby noch ein paar Minuten Zeit hatte, denn Ginny kam regelmäßig zu spät. Kirby legte die entsprechende Akte bereit, ging rüber in die Küche, goß den restlichen Kaffee, den sie schon am frühen Morgen gemacht hatte, in ihre Tasse und betrat ihr Sprechzimmer.
Das Zimmer, in dem sie einst in den lauen Sommernächten geträumt hatte, war jetzt frisch und sauber. Anstelle der sonst in Sprechzimmern üblichen Bilder des Nervensystems oder des Mittelohrs zierten Wildblumen-Poster die weißen Wände. Kirby war der Meinung, anatomische Zeichnungen machten die Patienten nur nervös.
Nachdem sie die Patientenakte in den Halter neben der Tür gesteckt hatte, nahm sie einen rückenfreien Baumwollkittel aus dem Schrank – die Wegwerf-Papierkittel hatten für sie etwas Erniedrigendes – und legte ihn ans Fußende des Untersuchungsstuhls. Summend begleitete sie die beruhigende Mozartsonate, die leise aus dem Lautsprecher der Stereo-Anlage drang. Kirby hatte festgestellt, daß sich selbst jene Patienten, die sonst nicht viel mit klassischer Musik anzufangen wußten, bei diesen Klängen entspannten.
Sie legte die Instrumente zurecht, die sie für die Routine-Untersuchung brauchte, und nahm gerade den letzten Schluck Kaffee, als sie die helle Melodie hörte, die ihr mitteilte, daß sich die Tür zur Praxis geöffnet
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