Insel der Traumpfade Roman
in den letzten Wochen nicht erhalten?«
George nickte. »Doch, aber ich habe es nicht über mich gebracht, mich mit Sams letztem Willen zu beschäftigen«, murmelte er.
»Es ist nie leicht, wenn ein guter Freund stirbt«, sagte sein Gegenüber, »doch die vor uns liegende Angelegenheit ist unkompliziert. Sie sind der alleinige Erbe, bis auf ein paar kleinere Vermächtnisse.« Er nahm sein Monokel ab und polierte es. »Sie sind zu beglückwünschen, Mr Collinson. Kapitän Varney hat einen wohlhabenden jungen Mann aus Ihnen gemacht.«
George hatte einen Freund und Förderer verloren. Das war mit keinem Geld der Welt zu ersetzen.
»Dieses Schreiben hier hat er bei mir hinterlegt«, sagte der Anwalt, nachdem sie Samuels Hinterlassenschaft durchgegangen waren. »Ich soll es nach seinem Tod an Sie weitergeben.«
George nahm den versiegelten Brief an sich, schüttelte dem Anwalt die Hand und verließ das Büro. Draußen im Sonnenlicht blieb er stehen, damit sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnten, und ging dann am Flussufer entlang, bis er eine abgeschiedene, schattige Stelle fand, wo er sich hinsetzen und den Brief lesen konnte.
Er erbrach das Siegel. Das Papier war kostbar, die verschnörkelte, fließende Schrift zeugte von der Energie des Schreibers. Tiefe Trauer überfiel George, während er Samuels letzte Worte las:
Mein lieber Junge,
du hast mir die Chance gegeben, die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn zu erleben, und ich bin sehr stolz auf alles, was du erreicht hast. Du wirst inzwischen wissen, dass ich dir die Schiffe, meinen Anteil am Speicher, das Haus in den Bergen und das Geld hinterlassen habe, das in Banken sowohl in Nantucket als auch in Sydney deponiert ist. Ich hinterlasse alles dir in der sicheren Erkenntnis, dass du es klug verwenden wirst.
Aber sei gewarnt, mein Junge! Das Meer ist ein harter Zuchtmeister. Es fordert die volle Aufmerksamkeit eines Mannes, wenn nicht sogar sein Leben. Lass dich nicht so in die Falle locken wie ich, denn obwohl ich das Meer immer geliebt und beteuert habe, für Pflichten an Land nichts übrig zu haben, sehnte ich mich insgeheim doch immer nach dem Trost einer Frau und der Freude, Kinder heranwachsen zu sehen. Traurig, dass es nicht dazu kam, aber du bist noch jung und hast das Leben noch vor dir. Mach nicht denselben Fehler, mein Sohn. Wenn dein Herz rein ist, wird es dich nie auf Abwege führen.
Ich wünsche dir viel Glück und hoffe, ich werde in deinem Herzen weiterleben, so wie du in meinem.
Herzlichst, dein Samuel Varney
George blinzelte unter Tränen, faltete den Brief zusammen und ließ ihn in seine Tasche gleiten. Samuels Tod hatte ihn aus dem Ruder geworfen; seine freundlichen Worte und das großzügige Vermächtnis hatten nur bewirkt, dass er den Verlust noch tiefer empfand. Er schaute über das Wasser auf die Schiffe, die dort vor Anker lagen. Es war ein hübscher Anblick, wie sie auf dem kristallklaren Wasser dümpelten, auf dem sich das Licht wie Diamanten spiegelte, vermochte aber die dunkle Erinnerung an ein wütendes Meer und das leise Aufplatschen nicht zu verdrängen, als Samuels Leiche den Tiefen übergeben wurde.
Energisch schüttelte er die düsteren Gedanken ab, erhob sich, klopfte sich Grashalme und Blütenstaub von der Hose und schlenderte zurück in die Stadt. Die Atlantica war nach ihrem wahnsinnigen Kampf mit dem Ozean ziemlich ramponiert und zur Reparatur eingeholt worden, die ein paar Monate in Anspruch nehmen würde. Die anderen vier Schiffe der Flotte waren auf See und wurden erst im Spätsommer zurückerwartet. Thomas war mit seiner Kompanie unterwegs, und George hatte seine Eltern zwar bereits besucht und war auch schon draußen auf Moonrakers gewesen, hatte aber versprochen, für einen längeren Aufenthalt zurückzukommen. Mit der frei verfügbaren Zeit vor sich und ohne besonderes Ziel fühlte er sich der Realität seltsam enthoben.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht schimmerte Sydney Town in der Hitze. Obwohl er nur ungern dorthin zurückgekehrt war, spürte er eine tiefe innere Regung, eine Art Liebe zu diesem Ort, der eine Verheißung für ihn bereithielt. Eloise war nahe, er spürte es und konnte sich ihre gemeinsame Zeit in Balmain ohne weiteres ins Gedächtnis rufen. Ob er sie doch noch überreden konnte, Edward zu verlassen – oder hatte sie sich mit ihm abgefunden? Sehnte sie sich noch genauso nach ihm, wie er sich nach ihr sehnte – oder hatte sie ihre Liebe vergessen?
Wie er da im Sonnenlicht
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