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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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vermisste. Donovan mochte ein warmer Bruder sein, aber er war belesen und kein Sträfling, deshalb konnte man sich mit ihm über andere Dinge unterhalten als das Gefängnis.
    Nachdenklich kehrte Richard zu seiner Koje zurück. Er hatte von Power eine interessante Neuigkeit erfahren! Die Expeditionsführung hatte keine Ahnung, was die Sträflinge verbrochen und welche Reststrafe sie noch zu verbüßen hatten … Vielleicht konnte Power daraus Kapital schlagen. Andererseits war nicht auszuschließen, dass der Gouverneur das Strafmaß aller Gefangenen eigenmächtig auf vierzehn Jahre festsetzen würde. Schließlich konnte niemand daran gelegen sein, dass in der Botany Bay plötzlich alle Sträflinge behaupteten, sie hätten nur noch sechs oder zwölf Monate zu verbüßen.
     
    Am 20. Mai, als die Alexander bei starkem Seegang durch strömenden Regen fuhr, brachte man die Sträflinge gruppenweise an Deck. Dort sollten ihnen die Fußeisen abgenommen werden. Die Kranken machten den Anfang, und auch Ike Rogers musste hinauf, obwohl es ihm so elend ging, dass Bordarzt Balmain ihm zweimal täglich ein Glas starken Madeirawein verordnet hatte.
    Als Richard an die Reihe kam, stürmte es heftig. Die Sichtweite
betrug nur wenige Meter. Jemand drückte ihn auf die Planken und spreizte ihm die Beine. Zwei Seesoldaten saßen nebeneinander auf Hockern. Einer schob einen Meißel unter die Fußfessel, der andere schmetterte seinen Hammer auf das dicke Ende. Ein stechender Schmerz fuhr Richard ins Bein, doch er achtete nicht darauf. Er streckte das Gesicht in den strömenden Regen, und sein Geist schwang sich empor zu den grauen Wolkenfetzen. Ein zweiter Schmerz, und das andere Bein war frei, und da saß er nun, triefend vor Nässe und trunken vor Glück.
    Irgendjemand - er hatte keine Ahnung, wer - reichte ihm die Hand und half ihm auf. Benommen taumelte er fort, und es dauerte eine Weile, ehe er begriff, dass er nun, nach dreiunddreißig Monaten in Eisen, endlich von den Fesseln befreit war.
    Kaum zurück im Gefängnis, begann er zu frösteln. Er schlüpfte aus den Kleidern, wrang das saubere Wasser in seinen Filterstein und hängte die nassen Sachen an die Leine, die sie zwischen der Salzwassertonne und einem Balken gespannt hatten. Dann trocknete er sich mit einem Lappen ab und zog neue Sachen an. Zur Feier des Tages.
    Abends, als er zwischen fünf Männern lag, die ebenso glücklich waren wie er, und die Alexander , England hinter sich lassend, den Golf von Biscaya durchpflügte, schrieb er in Gedanken einen Brief an einen Menschen, der sehr wenig von seinem Vater, etwas mehr von Jem Thistlethwaite, sehr viel von Vetter James, dem Apotheker, und am meisten von William Henry hatte.
    Ich vermag dir nicht zu sagen, was für ein Mensch ich geworden bin, noch welche Ursachen die Veränderung bewirkt haben. Die Haft und die Entbehrungen, die Misshandlungen und die Demütigungen waren es jedenfalls nicht. Denn ich glaube, dass der Mann, der ich heute bin, immer da war und nur auf eine Gelegenheit gewartet hat, in Erscheinung zu treten. Ich habe mir fest vorgenommen, zu überleben, doch das Überleben hat längst nicht mehr Vorrang. Es ist, als spürte ich hinter allem eine Absicht, einen Willen, der viel größer ist als meiner. Ich bin jetzt so wenig ein Schmetterling, wie ich vorher
eine Raupe war. Doch wie sonst, wenn nicht mit diesem Bild, kann ich erklären, was mit mir geschehen ist? Mit meinem Geist, ja, mit meiner Seele. Der Mensch, der ich geworden bin, ist nicht bedeutender, nicht wertvoller, nicht edler, nicht besser. Aber er ist anders.
    Ich habe in den vergangenen dreiunddreißig Monaten sehr viel gelesen, und schon das hat mich verändert. So hatte ich, obwohl in Ketten und der Niedrigste unter den Niedrigen, das große Glück, die Gedanken von Männern kennen zu lernen, gegen die ich ein bloßes Staubkorn bin. Ich habe die Früchte ihres Geistes geerntet und dadurch meinen eigenen Garten bestellt. Wäre dem nicht so, könnte ich jetzt nicht sehen, was ich sehe, könnte ich die Veränderung nicht erkennen.
    Bei Shakespeare heißt es: Morgen und Morgen und dann wieder Morgen kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag, zur letzten Silb auf unserm Lebensblatt; und alle unsre Gestern führten Narrn den Pfad des stäub’gen Tods . Wie könnte ich es auch nur annähernd so gut ausdrücken? Obgleich ich es anders meine, denn ich bin kein Macbeth. Ich möchte dir sagen, dass … Gestern war ich ein Narr auf dem Pfad des

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