Insel der Verlorenen Roman
wie William Henry nach seinem ersten Schultag. »Gottvater! Jetzt weiß ich, was Stephen meinte. Sie brauchen Menschen, die Sie brauchen wie ein Kind seinen Vater. Sie sind sehr stark und sehr klug. Stephen ist das auch, aber er fühlt sich nicht wie ein Vater. Ich werde immer Ihr Kind sein.«
»Ja, in gewisser Weise. Andererseits möchte ich Kinder mit dir haben. Ich bin kein Gott - Stephen wollte keine Gotteslästerung begehen, er hat es scherzhaft gemeint.«
»Aber Sie haben doch schon eine Frau«, erwiderte Kitty. »Ich kann nicht Ihre Frau werden.«
»Lizzie Lock ist in Reverend Johnsons Register als meine Frau eingetragen, aber sie ist nie meine Frau gewesen. In England hätte ich die Ehe annullieren lassen können, aber hier gibt es keine Bischöfe und geistlichen Gerichte. Du bist meine Frau, Kitty, und ich zweifle keine Sekunde daran, dass Gott mich versteht. Du bist für mich ein Gottesgeschenk. Ich wusste es in dem Augenblick, als ich dir in die Augen sah. Ich werde dich allen Leuten als meine Frau vorstellen und dich meine Frau nennen. Du bist mein anderes Ich.«
Schweigen trat ein. Keiner rührte sich. Kitty sah ihn unverwandt an.
»Und was geschieht jetzt?«, fragte sie ein wenig atemlos.
»Bis zum Abendläuten nichts«, antwortete er und erhob sich. »Ich habe nicht die Absicht, mich von Besuchern stören zu lassen, Frau. Grab weiter den Garten um, aber denk daran, dass viele Sämlinge später umgepflanzt werden müssen. Ich gehe den Bach hinauf und suche die Quelle. Du warst zum Skelett abgemagert, aber die Sonne, die Luft und das Essen auf Norfolk Island haben innerhalb von neun Monaten eine neue Frau aus dir gemacht. Und diese Frau will ich so nahe bei Sydney Town nicht allein im Garten arbeiten lassen.«
Er glaubte nicht, dass sie ihn liebte, aber darauf hatte er ohnehin nie gehofft. Er war beinahe dreiundzwanzig Jahre älter als sie, und Jugend drängte zu Jugend. Doch als sie ihn an diesem Morgen über den Tisch hinweg angesehen hatte, fühlte er, wie sein Körper in Aufruhr geriet und ihr sein Innerstes offenbarte. Sie war zu Stephen geflüchtet, aber nicht unbewegt oder aus Angst. Er hatte sich ihr zu erkennen gegeben und dadurch Gefühle bei ihr geweckt, die völlig neu für sie waren und nur ihm galten. Dass er so viel Macht besaß, hatte ihn in Hochstimmung versetzt. Er war nie ein Mann gewesen, der seine Mußestunden dazu nutzte, in sein Inneres zu blicken, und erst als er seine Macht an Kitty erprobte, verstand er, warum er so war, wie er war. Warum er eine Art Übervater war. Alle Männer und Frauen brauchten einen Menschen, zu dem sie
aufblicken konnten. Einen König, einen Premierminister, einen Anführer. Er hatte sich anderer Menschen angenommen, aber zunächst nur widerstrebend, weil ihm keine andere Wahl geblieben war. Er hatte gesehen, wie sie sich abstrampelten, und er hätte es nicht ertragen, wenn sie untergegangen wären. Und langsam war ihm diese Haltung zur zweiten Natur geworden. Hatte er anfangs nur mit einem resignierten Seufzer Verantwortung übernommen, so tat er es jetzt unwillkürlich. Er hatte den Samen schon immer in sich getragen, doch er hätte nie aufgehen können, wenn er in Bristol geblieben wäre. Der Mensch wurde mit vielen Anlagen geboren, doch einige blieben ihm zeitlebens verborgen. Alles hing davon ab, wohin Gott seine Schritte lenkte.
Nachdem Richard zwanzig Minuten lang mit nackten Beinen auf dem schlammigen Grund des Baches stromaufwärts gestapft war, gelangte er an den ersten Zufluss, der von den Hügeln im Nordwesten herunterrauschte. Ein enges, dicht bewachsenes Tal führte ihn in Versuchung, doch es lag zu nahe an Arthur’s Vale, und so folgte er weiter dem Hauptarm, der sich durch ein Dickicht aus Baumfarnen, Palmen und Bananenstauden schlängelte. Schließlich gelangte er auf eine ebene, ausgedehnte Fläche, auf der der Bach sich abermals verzweigte. Der westliche Arm, dem Richard zuerst folgte, war zu kurz. Der andere, der aus Südwesten kam, war mit seinem tiefen Bett und der starken Strömung eindeutig der Hauptarm. Er musste in der tiefen Spalte da oben entspringen. Richard stieg immer höher und höher, bis er knapp unter dem Kamm die Quelle entdeckte, die zwischen mit Moos und Flechten bewachsenen Felsen hervorsprudelte. Hier oben wuchs eine Vielfalt von Farnen, die er nie für möglich gehalten hätte - gekräuselte, gefiederte, flaumige, fischschwanzartige.
Richard blinzelte, um sich zu orientieren, in die Sonne. Sie hatte
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