Insel der Verlorenen Roman
das schon längst einmal erwähnt. Also war er ein stiller Teilhaber, der im Bedarfsfall Kapital besorgte und auf diese Weise Steuern sparte.
Richard hatte sich in seinen neuen Alltag eingelebt. Traurig war er nur darüber, so wenig Zeit für William Henry zu haben. Die Sonntage waren unendlich wertvoll. Richard führte seinen Sohn immer wieder auf neue Spazierwege, sodass William Henry nach und nach jeden Winkel Bristols kennen lernte. Clifton blieb allerdings ihr Lieblingsziel. Dort stand wie zum Hohn das Haus, das Richard einmal fast gekauft hätte. William Henry war ganz vernarrt in den Ort.
»Mr Parfrey war gestern wieder sehr lustig im Unterricht«, sagte er und hüpfte übermütig neben Richard her.
Richard unterdrückte einen Seufzer und machte sich auf eine neue Lobeshymne auf den vorbildlichen Lehrer gefasst, der es offenbar fertig brachte, ein langweiliges Fach wie Latein unterhaltsam zu unterrichten. William Henry war in Latein sehr viel weiter, als Richard in seinem Alter gewesen war.
»Er bringt uns so oft zum Lachen, dass es dem Schulleiter und Mr Prichard missfällt. Ich glaube, ihnen gefällt auch nicht, dass Mr Parfrey niemals den Rohrstock benutzt.«
»Da wundert mich nur, dass Mr Parfrey immer noch bei Colston arbeitet«, sagte Richard trocken.
»Wir sind alle gut in Latein«, erklärte William Henry. »Das müssen wir auch sein! Sonst bekommt Mr Parfrey Ärger mit dem Schulleiter. Ich mag ihn, Papa. Er ist immer gut gelaunt.«
»Dann hast du mit diesem Lehrer wirklich Glück, William Henry.«
Ende Mai war das Rätsel um Caves Brennerei gelöst: Plötzlich passte alles zusammen.
William Thorne war wieder einmal verschwunden, ebenso die Hilfsarbeiter an den Destillierapparaten, die sich, sobald der Vorarbeiter
weg war, über den Rum hermachten. Nicht den guten Rum, der direkt in Fässer wanderte und von Mr Cave persönlich verschnitten wurde, sondern das unreine zweite Destillat aus dem zweiten Auffangbehälter. Niemand bemerkte es, wenn ein bisschen davon abgezweigt wurde.
Richard brauchte weder Rum noch Gesellschaft, deshalb arbeitete er weiter. Der riesige Raum hatte so viele Winkel und Ecken, dass es schwierig war, eine Vorstellung des Ganzen zu entwickeln. Das galt besonders für den hinteren Teil, der Richard ausdrücklich verboten war. Er hätte ihn auch nicht betreten, hätte er nicht deutlich das Zischen einer unter Druck entweichenden Flüssigkeit gehört. Trotz einer sorgfältigen Prüfung der Apparate und des verwirrenden Röhrensystems fand er nichts. Als er sich freilich dem letzten Paar näherte, bemerkte er, dass das Geräusch von weiter hinten kam. Er stieg also auf die unangenehm heißen Schamottesteine und quetschte sich zwischen den beiden Kolben durch. Er bückte sich, um nicht gegen die Auffangwannen zu stoßen.
Erst jetzt bemerkte er einige Röhren, die hier gar nichts zu suchen hatten. Er erstarrte. Eine ganze Minute lang stand er reglos da, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann sah er nach oben und entdeckte einige hinter dichten Spinnweben verborgene Röhren. Jede dieser illegalen Röhren kam aus einem Auffangbehälter mit dem fertigen Destillat. Die Röhren zweigten nicht vom Boden ab, sondern von weiter oben - von einer Stelle, die einen Überlauf nur ermöglichte, wenn der Behälter nahezu voll war. Keine der Röhren hatte ein Ventil. Stieg der Flüssigkeitsspiegel bis zur Abzweigung, lief der Rum automatisch ab.
Die Röhren verschwanden in einer wandähnlichen Abtrennung, hinter der zwei Reihen mit 240-Liter-Fässern versteckt waren. Richard pfiff leise durch die Zähne und überschlug in Gedanken, wie viel steuerfreier Rum Tag für Tag auf diese Weise abfloss. Wie klug, dass William Thorne das fertige Destillat aus dem Auffangbehälter abzapfte! Nur ein erfahrener Brenner hätte sich über die Langsamkeit von Mr Caves Anlage gewundert, und solche Männer gab es in der Redcliff Street nicht. Mit Ausnahme von William Thorne. Und Thomas Cave. Steckte der auch mit drin?
Richard fand die Ursache des Zischens, als er wieder auf das Dach des Ofens stieg: Aus einem kleinen Loch in der abgenutzten Kupferhülle des rechten Destillierkolbens schoss ein feiner Strahl. Er hockte sich hin, um das Loch zu flicken. In diesem Augenblick kam Thorne herein.
»He du! Was machst du da oben?«, wollte er wütend wissen.
»Ich mache meine Arbeit«, erwiderte Richard ruhig. »Aber das hier wird nicht lange halten. Ich glaube, Sie müssen schon
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