Insel der Verlorenen Roman
durch die Wirtsstube. Allen standen die Haare zu Berge. Peg richtete sich auf, fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Sofort drängten sich die anwesenden Gäste um sie. Dick musste die meisten von ihnen gewaltsam beiseite schieben, erst dann konnte er neben Richard niederknien, der Pegs Kopf im Schoß hielt. Auf der anderen Seite kniete Mag mit William Henry, der nach der Hand seiner Mutter griff.
»Es hat keinen Sinn, Richard. Sie ist tot.«
»Nein, das ist sie nicht!« Richard nahm Pegs andere Hand und rieb sie heftig. »Peg, Liebes! Wach auf! Peg, wach auf!«
»Mama, wach auf!«, rief auch William Henry. Er war zu erschrocken, um weinen zu können. »Mama, wach auf, und ich küsse und umarme dich! Bitte, bitte, wach doch auf!«
Aber Peg lag völlig bewegungslos da, und nichts konnte sie wieder ins Leben zurückrufen.
»Es war ein Schlaganfall«, sagte der eilig herbeigerufene Vetter James.
»Unmöglich!«, rief Richard. »Sie ist doch noch so jung!«
»Auch junge Leute haben Schlaganfälle, und sie verlaufen immer gleich - ein plötzlicher Schmerzensschrei, dann Bewusstlosigkeit und Tod.«
»Sie kann nicht tot sein«, sagte Richard starrköpfig. Wie konnte Peg tot sein? Sie war ein Teil seiner selbst. »Ausgeschlossen.«
»Glaub mir, Richard, sie ist tot. Ich habe einen Spiegel an ihren Mund gehalten, und er hat sich nicht beschlagen. Ich habe mein Hörrohr auf ihre Brust gesetzt und keinen Herzschlag mehr gehört. Ihre Augen sind erloschen. Füge dich Gottes Willen, Richard. Lasst sie uns nach oben bringen, dort mache ich sie zurecht.«
Und das tat er dann auch mit Mags Hilfe. Die beiden wuschen Peg, kleideten sie in ihr Sonntagsgewand aus rosa Kambrik mit Lochstickerei. Sie schminkten ihr Wangen und Lippen, frisierten ihr die Haare nach der neuesten Mode und zogen ihr Strümpfe an und ihre besten, hochhackigen Sonntagsschuhe. Ihre Hände lagen gefaltet auf ihrer Brust, die Augen hatte sie selbst noch geschlossen. Peg sah aus, als ob sie friedlich schliefe, als sei sie kaum zwanzig Jahre alt.
Richard saß neben ihr, William Henry so an seiner Seite, dass er sein Gesicht nicht sehen konnte. Hätte er es sehen können, er wäre vollends zusammengebrochen, und das hätte niemandem etwas genutzt. Lampen und Kerzen beleuchteten den Raum. Sie würden brennen, bis Peg übermorgen in den Sarg gelegt und mit dem Bestattungswagen zum Trauergottesdienst in die St.-James-Kirche gebracht würde. Die Verwandten kamen, um der Toten die letzte Ehre zu erweisen, den kalten Mund zu küssen und gemeinsam mit
dem Witwer zu trauern. Anschließend gingen sie in die Wirtsstube hinunter, um etwas zu trinken. Einen so schaurigen und rückständigen Brauch wie die Totenwache gab es in dieser Stadt nicht mehr. Im protestantischen Bristol ging man mit dem Tod nüchtern und sachlich um.
Richard blieb Tag und Nacht wach, die Familienmitglieder abwechselnd neben sich. Dies eine Mal hörte man kein Schnarchen durch die Trennwand, nur unterdrücktes Schluchzen, Seufzen und leise Worte des Trostes. Niemand schlief, nur William Henry weinte sich in einen ruhelosen Schlaf. Pegs Tod war so plötzlich gekommen, dass Richard ihn noch gar nicht fassen konnte. Aber zu seinem eigenen Entsetzen spürte er unter der Oberfläche von Schmerz und Trauer bitteren Groll aufsteigen: Wenn du schon sterben musstest, Peg, warum bist du dann nicht gestorben, bevor ich mein Geld investiert habe? Dann hätte ich mit William Henry nach Clifton ziehen können und wäre den Gestank des Rums los gewesen. Ich wäre jetzt mein eigener Herr.
In der zweiten Nacht kam William Henry früh am Morgen barfuß und im Nachthemd und setzte sich zu seinem Vater. Sie hielten das Zimmer so kühl, wie es bei den vielen Kerzen und Lampen nur möglich war. Die reglose Gestalt auf dem Bett wirkte immer noch unverändert heiter und schön. Richard stand auf, um eine dicke Decke und zwei Paar Strümpfe zu holen. Er wickelte die Decke um seinen Sohn und zog ihm die Strümpfe an.
»Sie sieht glücklich aus«, sagte William Henry und wischte sich die Tränen ab.
»Sie war sehr glücklich, als sie starb«, sagte Richard leise, seine Tränen zurückhaltend. »Sie lächelte, William Henry.«
»Dann muss ich auch versuchen, glücklich zu sein, ihretwegen, nicht wahr, Papa?«
»Ja, mein Sohn. Ein so glücklicher Tod hat nichts Furchtbares. Mama ist in den Himmel gekommen.«
»Sie fehlt mir, Papa.«
»Mir auch. Das ist ganz normal.
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