Insel der Versuchung
atemberaubende Anblick des Meeres bei Nacht, der Max faszinierte.
Er öffnete die Türen, um die milde, salzige Luft hineinzulassen. In England war es inzwischen Herbst, doch hier schien der Sommer länger zu dauern, und der zunehmende Mond warf silbernes Licht auf die sich schier endlos erstreckende glitzernde Wasserfläche.
Angesichts einer Szenerie von derart unwirklicher Schönheit fand er es leicht, an Zaubersprüche und Magie zu glauben, es zu akzeptieren, dass Kyrene eine Insel der Seligkeit war, die die Sinne betören konnte und in ihren Bewohnern wilde, urtümliche Gelüste weckte. Es war tatsächlich ein Paradies, das eine heitere Gelassenheit ausstrahlte, wie sie ihm nie zuvor auf der Welt begegnet war.
Eigentlich durfte er sich nicht so rastlos fühlen. Seit seiner Ankunft heute Nachmittag war er schon in der Bucht geschwommen und hatte ein ausgezeichnetes Dinner von Thornes fähiger Dienerschaft serviert bekommen. Danach hatte er einen ausgedehnten Spaziergang durch die terrassenförmig angelegten Gärten unternommen und mehrere seltene Bücher über Geschichte in Thornes gut bestückter Bibliothek durchgeblättert, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Doch Ruhe und Frieden hatte Max nicht finden können.
Wie gewöhnlich mied er den Schlaf, um seinen düsteren Träumen zu entgehen.
Mit dem Messer in seiner Tasche spielend, nahm Max einen Schluck aus seinem Glas. Eine Zeit lang nach Philips Tod hatte er versucht, sich besinnungslos zu betrinken, um seine Albträume zu betäuben, aber es hatte nicht geholfen.
Doch seit seinem Besuch auf Kyrene letztes Jahr hatte er seinen Schutzengel neben sich, der ihm Gesellschaft leistete und ihm Kraft schenkte.
Schon der Gedanke an sie half ihm bereits. Ihr Bild allein konnte die Chimären bannen, die ihn quälten.
Er schloss die Augen und dachte an Caro. Der Puls an ihrer Kehle unter seinen Fingerspitzen, wenn sie sich ihm in Lust entgegenbog. Ihre warmen Lippen, die heiße Leidenschaft, mit der sich ihre feuchte Hitze um ihn zusammenzog ...
Vielleicht stehe ich unter Caros Bann, nicht dem der Insel, überlegte Max. Und es konnte sein, dass er nie wieder frei sein würde von ihr. Würde sie nie aus seinem Sinn, seinem Blut vertreiben ...
Max’ Muskeln spannten sich jäh, und er konnte das Gefühl nicht abschütteln, beobachtet zu werden. Der würzige Geruch einer Zigarre stieg ihm im selben Augenblick in die Nase, als er einen rot glühenden Fleck in der Dunkelheit sah.
Nicht weit von ihm stand eine Gestalt im Schatten des Johannisbrotbaumes.
Max’ Rücken begann zu prickeln, und er griff unwillkürlich nach seinem Säbel. Da seine Hände auf keine Waffe an seiner Seite trafen, zog er das Messer aus seiner Rocktasche. In dem Augenblick trat der Mann die Zigarre mit seinem Absatz aus und begab sich mit wenigen Schritten in den Lichtkreis aus dem Arbeitszimmer.
Ihm folgte ein unwesentlich kleinerer, kräftiger Mann.
„Ich sehe“, erklärte der erste Gentleman, während er an Max vorbei in den Raum schlenderte, „dass Sie es sich mit Thornes Brandy gemütlich gemacht haben.“ Als Max angesichts dieser Dreistigkeit die Augenbrauen hochzog, stellte sich der Fremde vor: „Ich bin Alex Ryder, und dies ist Santos Verra.“
Verra war der Mann, mit dem Caro heute Nachtmittag fortgefahren war.
„Buenas noches, Señor Leighton“, sagte der Spanier und lächelte, wobei seine Zähne in dem dunklen Gesicht aufblitzten.
Ryder hatte dunkle Haare und Augen, aber seine Haut war von der Sonne gebräunt und besaß nicht den Olivton des geborenen Südländers. Und er sprach reinstes vornehmes Englisch. Verra sah etwa zehn Jahre älter als er aus, Ryder etwa so alt wie er selbst mit seinen zweiunddreißig Jahren.
Während er mit einem Nicken Ryders Gruß erwiderte, wusste Max augenblicklich, dass er es mit einem würdigen Gegner zu tun hatte. Dessen scharf blickende, dunkle Augen besaßen die abschätzende, argwöhnische Eindringlichkeit eines Mannes, der im Kampf oder auch sonst keinen Zoll weichen würde.
Ryder gab ihm nicht die Hand, sondern verhalf sich vielmehr zu einer großzügig bemessenen Portion Brandy und bot seinem spanischen Freund auch etwas an.
Als Max’ Lippen sich spöttisch kräuselten, lächelte der Spanier erneut. „Señor Thorne wird keine Einwände haben, glauben Sie mir. Wir sind compadres.“
„Haben Sie etwas dagegen?“ fragte Ryder Max kühl und ließ sich auf einem gepolsterten Lederstuhl nieder.
„Und wenn ich das
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