Insel des Sturms
hatte.
»Kommen Sie bald mal wieder«, bat er, als sie sich erhob.
»Das werde ich ganz sicher. Gute Nacht!« Sie sah sich suchend um, da sie meinte, es wäre höflich, sich auch von den anderen Menschen zu verabschieden, doch dann blickte sie wieder in Richtung von Aidan. »Vielen Dank!«
»Gute Nacht, Jude Frances!«
Er beobachtete, wie sie den Pub verließ und griff geistesabwesend nach einem Glas, als jemand ein weiteres Bier bestellte. Ein wirklich hübsches Ding, dachte er erneut. Und gerade spröde genug, um die Frage in einem Mann aufkommen zu lassen, wie sie sich am besten aus der Reserve locken ließ.
Vielleicht würde es ihm Spaß machen, diese Mühe auf sich zu nehmen, überlegte er. Schließlich hatte er jede Menge Zeit.
»Sie ist sicher reich«, bemerkte Darcy und stieß einen leisen Seufzer aus.
Aidan sah sie an. »Warum sagst du das?«
»Man sieht es an ihrer Garderobe, von oben bis unten schlichte Perfektion. Die kleinen Ohrringe, die sie anhatte, die kleinen Kreolen, waren aus echtem Gold, und wenn die Schuhe nicht italienische Markendinger waren, dann heirate ich einen Affen.«
Er hatte weder die Ohrringe noch die Schuhe der Amerikanerin bemerkt, sondern einzig ihre zurückhaltende, gepflegte Weiblichkeit. Und als echter Mann hatte er sich vorgestellt, wie er das Band lösen würde, das sie um ihr Haar geschlungen hatte, sodass es in weichen Wogen über ihre Schultern fiel.
Doch seine Schwester verzog gekränkt das Gesicht, und so legte er eilig einen Finger auf ihre wohl geformte Nase. »Sie mag reich sein, Darcy-Schatz, aber sie ist so allein und schüchtern, wie du es nie gewesen bist. Freunde kann man sich nämlich nicht kaufen!«
Darcy schob sich die Haare aus der Stirn. »Vielleicht schaue ich ja mal bei ihr vorbei.«
»Du hast eben ein gutes Herz!«
Grinsend nahm sie ihr Tablett vom Tresen. »Und du hast auf ihren Hintern gestarrt, als sie gegangen ist.«
Er erwiderte ihr Grinsen. »Ich habe eben gute Augen.«
Nachdem der letzte Gast gegangen, das letzte Glas gespült, der Boden gewischt und die Tür sorgsam verschlossen war, fand Aidan weder die Ruhe zu schlafen, noch zu lesen, noch vor dem Kamin zu sitzen und ein Glas Whiskey zu genießen.
Normalerweise störte es ihn nicht, wenn er die letzte
Stunde des Tages allein in seinen Räumen oberhalb der Wirtschaft saß. Oft genoss er es sogar. Allerdings genoss er ebenso die langen Spaziergänge, die er regelmäßig in Nächten unternahm, wenn am Himmel unzählige Sterne blitzten und der Mond weißlich schimmernd über das Wasser dahinschwebte.
Also ging er auch heute Abend zu den Klippen. Es stimmte, was sein Bruder zu Jude gesagt hatte. Aidan hatte Lady Gwen gesehen – und zwar nicht nur einmal –, als sie, den langen, schweren Umhang und die blonden Haare wie die Mähne eines wilden Pferdes im frischen Wind gebläht, mit kreidebleicher Miene hoch über dem Meer gestanden hatte.
Zum ersten Mal hatte er sie gesehen, als er noch ein Kind gewesen war, und damals hatte er eine Art entsetzter Aufregung verspürt. Dann jedoch hatten ihr leises Schluchzen und die Verzweiflung auf ihren Zügen sein Mitgefühl geweckt.
Nie hatte sie ein Wort gesprochen, doch ihn bestimmt auch gesehen. Das würde er auf so viele Bibeln schwören, wie unter seine Haut passten.
Heute Abend jedoch hielt er nicht Ausschau nach dem Geist, nach der gespenstischen Erscheinung einer Frau, die verloren hatte, was sie am meisten liebte, ehe es ihr auch nur bewusst geworden war.
Aidan wollte nur ein Stückchen durch die kühle Nachtluft gehen, auf diesem Flecken Erde, zu dem er zurückgekommen war, weil er sich an keinem anderem Ort je wirklich heimisch fühlte.
Als er den Klippenrand erklomm, den er ebenso gut kannte wie den Weg von seinem Bett ins Bad, spürte er nichts außer der Dunkelheit, der Luft, dem Meer.
Tief unter seinen Füßen schlugen die Wogen wie seit Jahrmillionen donnernd auf den harten Fels. Das Licht des halben Mondes malte eine schimmernde Linie auf das schwarze Wasser, das niemals vollkommen zur Ruhe kam. Hier konnte
er atmen und sich den Überlegungen widmen, zu denen er während der Arbeit des Tages nicht kam.
Der Pub gehörte ihm. Und obgleich er niemals erwartet hätte, je allein die Verantwortung dafür zu tragen, empfand er das Gewicht auf seinen Schultern keineswegs als Last. Die Entscheidung seiner Eltern, sich in Boston niederzulassen, statt nur so lange zu bleiben, bis der Pub seines Onkels nach dem ersten halben
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