Insel des Sturms
ins Arbeitszimmer stieg.
Trotz des wunderbaren Tages würde sie nicht stinkfaul über die Hügel flanieren. Gleich wie einladend die Blumen draußen wirkten, würde sie nicht hinausschlendern, um sich über den Beeten in Träumen zu ergehen. Und egal wie verlockend der Gedanke war, würde sie keinesfalls ins Dorf fahren
oder sich jetzt schon einen Strandspaziergang genehmigen.
Obgleich viele ihre Ideen von der Erforschung uralter irischer Legenden sicher bestenfalls als Grille abtäten, wäre es, wenn sie die Sache professionell und klar denkend anginge, sicher ein lohnenswertes Vorhaben. Schließlich bildete die Kunst der mündlichen Erzählung ebenso wie das geschriebene Wort einen der Ecksteine der irischen Kultur.
Sie brachte es einfach nicht über sich, sich einzugestehen, dass sie sich in ihrem tiefsten Inneren danach sehnte, eigene Texte zu schreiben. Durch das Aufzeichnen von Geschichten endlich die sorgsam verschlossene Kammer in ihrem Herzen zu öffnen und zu beobachten, welche Worte und Bilder daraus hervorströmten.
Wann auch immer sie Gefahr lief, das Schloss der Tür zu dieser Kammer zu berühren, sagte sie sich streng, ein derartiges Vorhaben wäre überspannt romantisch, die reinste Narretei. Normale Menschen mit durchschnittlichen Fähigkeiten bemühten sich besser um Sachlichkeit.
Erforschen, Katalogisieren, Analysieren waren vernünftige Arbeiten, Arbeiten, die sie gelernt hatte. Arbeiten, dachte sie mit einer Spur von Widerwillen, die man von ihr erwartete. Durch den von ihr gewählten Sprung über den großen Teich hatte sie ihre Rebellion bereits deutlich gemacht. Nun würde sie also die psychologischen Gründe für die Entstehung und Weitergabe der uralten Mythen im Land ihrer Vorfahren wissenschaftlich untersuchen.
Material gäbe es hier in Irland sicherlich genug.
Geister und Banshees, Pookas und Feen. Was für ein reiches, fantasiebegabtes Wunder das Keltenhirn doch war! Die Leute sagten, ihr Cottage stünde auf einem Feenhügel, einem der magischen Orte, unter dem ein schimmerndes Märchenreich verborgen lag.
Wenn sie sich recht erinnerte, hieß es in der Legende, dass
ein Sterblicher in die Feenwelt unter dem Hügel gelockt oder gar dorthin entführt und hundert Jahre gefangen gehalten werden konnte, wenn er nicht aufpasste.
War das nicht faszinierend?
Augenscheinlich vernunftbegabte Menschen an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert brachten es tatsächlich fertig, so etwas zu behaupten, und zwar ohne dabei zu erröten.
Das, so dachte sie, war die Macht der Mythen über die menschliche Psyche, über den menschlichen Intellekt.
Und diese Macht war stark genug, dass sie – allein in der Nacht – während eines kurzen Augenblicks beinahe selbst daran geglaubt hatte. Die Musik des Glockenspiels und der Wind hatten natürlich das ihrige dazu beigetragen. Die von der Luft erzeugten Lieder verführten das Gemüt dessen, der sie hörte, zum Träumen.
Ebenso wie die Gestalt hoch oben auf den Klippen. Der Schatten eines Mannes, der sich vor dem Himmel und dem Meer deutlich abgezeichnet hatte, hatte ihren Blick geradezu magisch angezogen und dafür gesorgt, dass ihr das Herz bis in die Kehle schlug. Er hatte gewirkt wie jemand, der auf seine Geliebte wartete oder aber um sie trauerte. Wie ein verwunschener Prinz, dessen Magie sich mit der dunklen See verwob.
Sehr romantisch und mehr als beeindruckend!
Natürlich – ganz eindeutig – musste, wer auch immer nach Mitternacht über die windumtosten Klippen lief, ein halbwegs Verrückter sein. Doch zu diesem Schluss war sie erst am Morgen nach dem Aufstehen gekommen, denn die ganze Nacht hindurch hatte sie sich ob der Kraft des Bildes seufzend und erschauernd in ihrem warmen Bett gewälzt.
Doch diese Verrücktheit war Teil des Charmes der Menschen und ihrer Geschichten hier. Sie würde sie nutzen. Würde sie ergründen. Würde in sie eintauchen.
Erfüllt von neuem Tatendrang wandte sie sich von den Kassetten und Briefen ihrer Oma ab, stellte ihren Laptop an und machte sich ans Werk.
Die Leute behaupten, das Cottage stünde auf einem Feenhügel, einer der zahlreichen Erhebungen in Irland, unter denen die Feen in ihren Palästen und Burgen leben. Es heißt, wenn man sich einem Feenhügel nähert, hört man vielleicht die Musik, die im großen Saal der Burg unter dem dichten, grünen Gras erklingt. Und dass, wer über einen Feenhügel geht, Gefahr läuft, von den Feen geraubt und gefangen genommen zu
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