Insel des Sturms
auch nichts, wenn ich Ihnen sage, wie reizend Sie aussehen.«
»Weder sehe ich reizend aus, noch brauche ich Komplimente wegen meines Äußeren. Können wir jetzt bitte anfangen?«
Als sie Platz nahm, setzte er sich ebenfalls, legte abermals den Kopf auf die Seite und blickte sie fragend an. »Sie glauben das tatsächlich, stimmt’s? Tja, nun, das ist wirklich interessant – auf einer intellektuellen Ebene.«
»Wir sind nicht hier, um über mich zu reden. Ich hatte den Eindruck, dass Sie ein gewisses Talent zum Geschichtenerzählen besitzen und dass Sie einige der für diese Gegend typischen Mythen und Legenden kennen.«
Wenn ihre Stimme derart distanziert wurde, verspürte er immer das Bedürfnis, sich auf sie zu stürzen und ein bisschen zu knuddeln. Also lehnte er sich entschieden auf seinem Stuhl zurück. Wenn sie intellektuell sein wollte, dann konnten sie seinetwegen auf dieser Ebene beginnen… ehe man
auf andere Ebenen überging. »Ich kenne tatsächlich einige Geschichten, von denen Sie allerdings vielleicht bereits die eine oder andere – womöglich etwas abgewandelt – gehört haben. Durch die mündliche Überlieferung schleichen sich von Erzähler zu Erzähler immer wieder leichte Veränderungen ein, aber der Kern des Ganzen wird davon nicht berührt. Die Geschichte von Reineke Fuchs wird von den Indianern in Amerika auf eine, von rumänischen Dorfbewohnern auf eine zweite und von den Iren auf eine dritte Weise erzählt – aber der rote Faden, der sich durch die Fabel zieht, bleibt überall derselbe.«
Als sie immer noch die Stirn runzelte, griff er nach der Teekanne und schenkte sich ein. »Sie haben den Nikolaus und den Weihnachtsmann – der eine füllt die Schuhe braver Kinder mit Bonbons und der andere rutscht durch den Kamin, aber beide Gestalten haben denselben Urpsrung. Und genau aus diesem Grund kommt der menschliche Intellekt immer wieder und an allen Orten zu dem Schluss, dass jeder Mythos irgendwie auf Tatsachen beruht.«
»Sie glauben also an den Nikolaus?«
Er stellte die Kanne auf den Tisch und wandte sich an Jude. »Ich glaube an Magie und daran, dass das Beste, das Wahrste der Magie im Herzen der Menschen zu finden ist. Sie sind inzwischen ein paar Tage hier, Jude Frances. Haben Sie die Magie etwa noch nicht gespürt?«
»Es ist die Atmosphäre.« Sie stellte den Recorder an. »Die Atmosphäre in diesem Land fördert die Entstehung und den Erhalt von Mythen natürlich. All die kleinen heidnischen Schreine und Opferstellen für irgendwelche Götter, insgesamt die ganze keltische Folklore mit ihren Geboten und Versprechungen, in die sich auf Grund der Invasion durch die Wikinger und Normannen auch Elemente anderer Kulturen gemischt haben.«
»Es ist das Land«, widersprach Aidan ihr entschieden.
»Nicht die Menschen, die versucht haben, es zu erobern. Es ist das Land, sind die Hügel, die Felsen, die Luft. Und das Blut, das in den zahllosen Kämpfen zur Verteidigung in seinen Boden eingesickert ist. Die Iren waren es, die die Wikinger, die Normannen und all die anderen absorbiert oder integriert haben, nicht anders herum.«
In seiner Rede schwang ein Stolz mit, den sie verstand und respektierte. »Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass alle Einwanderer, die auf diese Insel kamen, sich mit den einheimischen Frauen gepaart, ihren eigenen Samen weitergegeben und ihren eigenen Glauben oder Aberglauben mitgebracht haben. Somit wurden auch diese Dinge Bestandteile der irischen Kultur.«
»Was kam zuerst, die Geschichte oder der Erzähler? Wollen Sie das erörtern?«
Er war wirklich clever, musste sie ihm, wenn auch widerwillig, zugestehen. Außerdem ein schneller Denker, und schlagfertig. »Man kann nicht das eine ohne das andere untersuchen. Ebenso wichtig wie der Inhalt der Erzählung sind der Erzähler und seine Beweggründe für die Wiedergabe.«
»Also gut, dann erzähle ich Ihnen jetzt eine Geschichte, die mir von meinem Opa, ihm von seinem Vater, dem von seinem Vater und immer so weiter berichtet wurde; denn hier an dieser Küste, hier auf diesen Hügeln gibt es bereits länger, als man sich erinnern kann, uns Gallaghers.«
»Dann wurde die Geschichte jeweils von den Vätern an die Söhne weitergegeben?« Angesichts von Judes Kommentar zog er eine seiner Brauen hoch. »Sehr häufig werden Geschichten von den Müttern an die Töchter überliefert.«
»Das ist durchaus richtig – aber die Barden und Harfenspieler in Irland waren traditionsgemäß stets
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