Insel des Sturms
Sicherheitsgurt zurückgezerrt wurde.
Ehe sie ihn öffnen konnte, hatte sich Aidan bereits über sie gebeugt, den Gurt gelöst, sie um die Taille gefasst und auf dem Boden abgestellt. Da ihre Stimmbänder ihr einfach den Dienst versagten, konnte sie sich nicht einmal bei Brenna für den erfreulichen Vormittag bedanken, ehe die
junge Frau winkend und grinsend den Pick-up weiterschießen ließ.
»Das Mädchen fährt tatsächlich wie die Feuerwehr.« Kopfschüttelnd löste Aidan seine Finger von Judes Taille, ergriff dafür jedoch sofort ihre Hand. »Sie waren die ganze Woche noch nicht wieder im Pub!«
»Ich hatte zu tun.«
»Na, jetzt anscheinend gerade nicht.«
»Doch, im Grunde müsste ich …«
» … mich auf der Stelle einladen und mir ein Sandwich anbieten.« Als sie ihn mit großen Augen anstarrte, brach er in lautes Lachen aus. »Oder aber einen Spaziergang mit mir machen. Es ist ein wunderbarer Tag dafür. Und ich werde Sie nicht küssen, wenn Sie es nicht wollen – falls Sie sich dadurch bedrängt fühlen.«
»Ich fühle mich nicht bedrängt.«
»Tja, dann.« Er neigte seinen Kopf und hätte ihre Lippen beinahe erreicht, als sie rückwärts stolperte.
»So habe ich das nicht gemeint.«
»Das hatte ich befürchtet.« Trotzdem trat er einen Schritt zurück. »Dann gehen wir also lediglich spazieren. Waren Sie schon oben auf dem Turmhügel, um sich die alte Kathedrale anzusehen?«
»Nein, noch nicht.«
»Und das, obgleich Sie sich derart für die Geschichte der Umgebung interessieren? Dann gehen wir jetzt schleunigst rauf, und ich erzähle Ihnen noch ein Märchen für Ihre Dokumentation.«
»Ich habe meinen Recorder nicht dabei.«
Langsam hob er ihre Hand an seine Lippen und bedeckte ihre Knöchel mit einem federleichten Kuss. »Dann erzähle ich es Ihnen mit ganz einfachen Worten, die können Sie sich vielleicht so merken.«
8
Mit der Behauptung, es wäre ein wunderbarer Tag für einen Gang hatte er tatsächlich Recht. Die gesamte Umgebung glänzte wie das Innere einer Perle, strahlend, leuchtend mit dem sanften Schimmer unmerklicher Feuchtigkeit. Hinter den Hügeln und endlosen Feldern, unterhalb der Berge, senkte sich ein durchscheinender Vorhang aus frühlingswarmem Regen auf das üppige Land, und durch das flüssige Silber wob in goldfarbenen Strahlen flauschig weiches Sonnenlicht.
Es war einer der Tage, die geradezu nach Regenbogen schrien.
Die liebliche Brise brachte die zart grünen, der sommerlichen Reife entgegensprießenden Blätter der Bäume zum Erbeben und hüllte sie und Aidan in den Duft des frischen Grüns.
Er hielt ihre Hand mit dem sorglosen, lockeren Griff, der gleichermaßen Vertrautheit und Selbstverständlichkeit bedeutete.
Sie fühlte sich entspannt, behaglich und erstaunlich sorglos, und die Worte, die er sprach, zogen sie in Bann.
»Früher, so heißt es, hat einmal ein junges Mädchen hier gelebt. Ihr Gesicht war lieblich anzusehen, mit Haut so weiß wie Milch, Haaren so schwarz wie der Himmel um Mitternacht und Augen so blau wie das Wasser eines Sees. Betörender noch als ihre äußerliche Schönheit war der Liebreiz ihres Wesens, und wiederum betörender als der Liebreiz ihres Wesens war die Süße ihrer Stimme. Wenn sie sang, verstummten die Vögel, um zu lauschen, und die Engel blickten lächelnd aus den Wolken auf die junge Maid herab.«
Während sie den Hügel erklommen, drang das Rauschen des Meeres wie Hintergrundmusik zu seiner Erzählung an Judes Ohr.
»Oft erhob sich morgens ihre Stimme über die Hügel, und die Freude, die sie ausdrückte, überbot noch die Wärme des sommerlichen Sonnenlichts«, fuhr Aidan fort und zog sie weiter die Anhöhe hinauf. Sie kletterten empor, und die Brise verstärkte sich zu einem leichten Wind, tanzte fröhlich über den Wellen des Meeres und den Felsen.
»Eines Tages aber drang die bezaubernde Stimme des jungen Mädchens an die Ohren einer Hexe und weckte deren Neid.«
»Irgendwie ist an allem stets ein Haken«, bemerkte Jude, worauf er fröhlich grinste und erklärte: »Sicher, es gibt keine guten Geschichten ohne Haken. Diese Hexe nun hatte ein rabenschwarzes Herz und missbrauchte stets die magischen Kräfte, mit denen sie ausgestattet war. Zum Beispiel sorgte sie dafür, dass die Milch der Kühe sauer wurde und dass die Fischer häufig mit leeren Netzen heimkamen. Doch obgleich sie ihre Boshaftigkeit geschickt hinter äußerer Schönheit zu verbergen verstand, verriet sie sich durch ihre Stimme: Denn wenn
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