Insel des Sturms
sie den Mund öffnete, um zu singen, kam ein Krächzen heraus, im Vergleich zu dem das Quaken eines Frosches melodiös zu nennen war. Sie hasste das junge Mädchen für die Gabe des Gesangs, und so belegte sie es vor lauter Zorn mit einem Bann, der es stumm machte.«
»Aber sicher gab es ein Gegenmittel gegen diesen bösen Zauber – vielleicht in Gestalt eines rettenden Prinzen?«
»Natürlich gab es ein Gegenmittel, denn alles Böse wird stets durch etwas Gutes wieder wettgemacht.«
Jude lächelte, ihr gefielen Aidans Worte. Entgegen aller Logik glaubte sie an Happy Ends. Vor allem hier in dieser Welt der Klippen und der wilden Gräser, des tiefblauen Meeres, auf dem die roten Fischerboote schaukelten, der festen warmen Hände, in deren Griff sie sorglos und geborgen war.
Hier in dieser Welt schien einfach alles glücklich auszugehen.
»Das junge Mädchen war also zur Stille verdammt, es war ihm nicht mehr möglich, die Freude in seinem Herzen durch seinen Gesang mit anderen zu teilen. Und seine von der Hexe in einer silbernen Schatulle gefangene Stimme erging sich in schluchzendem Klagen.«
»Weshalb nur müssen irische Geschichten immer so entsetzlich traurig sein?«
»Sind sie das?« Er wirkte ehrlich überrascht. »Ich finde sie weniger traurig als vielmehr… ergreifend. Und für gewöhnlich entspringt die Poesie nun einmal weniger der Freude und dem Glück als vielmehr der Trauer und dem Leid.«
»Vermutlich haben Sie Recht.« Geistesabwesend strich sie sich ein paar Strähnen aus der Stirn. »Wie ging es weiter?«
»Tja, das kann ich Ihnen sagen. Fünf lange Jahre wanderte das junge Mädchen über die Hügel und Felder und Klippen, so wie wir es jetzt tun. Sie lauschte dem Gesang der Vögel, der Musik des Windes, dem Rauschen der See. Und diese Geräusche sammelte sie in ihrem Herzen, während die Hexe die Freude und Leidenschaft und Reinheit ihrer Stimme in der silbernen Schatulle in Gewahrsam hielt, damit außer ihr niemand sie hörte.«
Als sie die Kuppe des Hügels im Schatten der alten Kathedrale erreicht hatten, drehte sich Aidan zu Jude um und strich ihr mit den Fingerspitzen zärtlich über die Wangen. »Und wie ging es dann weiter?«
»Was?«, fragte sie überrascht.
»Erzählen Sie, wie es weiterging.«
»Aber es ist Ihre Geschichte!«
Er bückte sich nach ein paar kleinen weißen Blüten, die sich durch die Spalten der Felsen hervorgekämpft hatten, pflückte eine von ihnen und steckte sie seiner Begleiterin ins Haar. »Erzählen Sie mir, Jude Frances, wie es Ihrer Meinung nach weitergehen soll.«
Sie wollte nach der Blüte tasten, doch er hielt ihre Hand
fest, zog eine seiner Brauen hoch, und nach einem Augenblick zuckte sie ergeben mit den Schultern. »Nun, eines Tages kam ein attraktiver junger Mann über die Hügel geritten. Sein mächtiges weißes Ross war müde von dem langen Ritt und seine Rüstung fleckig und verbeult. Er hatte aus dem letzten Gefecht eine schwere Verwundung davongetragen, war weit weg von zu Hause und kannte sich in der Gegend nicht aus.«
Sie schloss die Augen und sah alles vor sich. Die drohend dunklen Bäume, die Schatten, den verwundeten Krieger, der sich danach sehnte, endlich wieder daheim zu sein.
»Während er tiefer in den Wald ritt, stieg dichter weißer Nebel um ihn auf und hüllte ihn in eine feuchte Decke, sodass er nichts mehr hörte außer dem Pochen seines Herzens. Und er wusste, dass er sich mit jedem Herzschlag, den er hörte, seinem Ende näherte.
Dann plötzlich sah er sie, wie sie sich ihm durch den dichten Nebel wie durch einen Fluss aus Silber näherte. Da er krank und hilfsbedürftig war, nahm sie ihn bei sich auf, versorgte schweigend seine Wunden, pflegte ihn, bis das Fieber abebbte. Obgleich sie ihm kein Wort des Trostes zu spenden vermochte, genügte ihre Zärtlichkeit, und so verliebten sie sich ohne Worte – ihr Herz zerbarst beinahe vor Verlangen, ihm ihre Liebe zu gestehen, ihre Freude und ihr Einverständnis hinauszusingen in die Welt. Ohne zu zögern, ohne eine Sekunde des Bedauerns, erklärte sie sich bereit, mit ihm in seine ferne Heimat zu ziehen und ihr eigenes Zuhause, ihre Freunde, Familie und den in der silbernen Schatulle gefangenen Teil ihres Selbst hinter sich zu lassen.«
Da sie das, was sie erzählte, nicht nur sah, sondern tief in ihrem Inneren sogar empfand, schüttelte sie den Kopf, ging zwischen den umgestürzten Grabsteinen zu dem runden Turm, lehnte sich mit dem Rücken an die Steine und blickte,
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