Insel des Sturms
ganz in der Geschichte gefangen, geistesabwesend über das leuchtend blaue Meer, auf dem die roten Boote tanzten.
»Und wie ging es dann weiter?«, fragte sie jetzt Aidan.
»Sie stieg zu ihm auf sein Pferd«, nahm er den von ihr gesponnenen Faden spontan auf. »Mit ihrer Treue und Liebe als einzigem Gepäck. In diesem Augenblick sprang der Deckel der silbernen Schatulle, die die Hexe immer noch habgierig bewachte, gewaltsam auf, die darin gefangene Stimme erhob sich in die Luft und schwebte über die Hügel direkt ins Herz der jungen Maid zurück. Und als sie zusammen mit ihrem Geliebten von dannen ritt, erklang ihre Stimme schöner als jemals zuvor. Selbst die Vögel verstummten, um dem Gesang zu lauschen und die Engel blickten lächelnd auf das junge Paar herab.«
Jude stieß einen Seufzer aus. »Ja, so ist es richtig.«
»Sie sind eine wirklich gute Geschichtenerzählerin.«
Die Worte erfüllten sie mit Stolz, doch dann empfand sie plötzlich wieder ihre alte Schüchternheit. »Nein, eigentlich nicht. Es war nur deshalb so einfach, weil Sie angefangen haben.«
»Sie haben den Mittelteil erzählt, und zwar auf eine derart liebreizende Weise, dass ich den Eindruck habe, dass Ihnen die Irin vielleicht doch nicht gänzlich ausgetrieben worden ist. So«, murmelte er mehr als zufrieden. »Endlich haben Sie ein Lachen in den Augen und eine Blume im Haar. Würden Sie sich jetzt vielleicht doch von mir küssen lassen, Jude Frances?«
Jude bewegte sich sehr schnell. Manchmal musste man, um Vorsicht walten zu lassen, eben behände sein. Sie duckte sich unter seinem Arm hindurch und ging um ihn herum. »Beinahe hätte ich vergessen, weshalb wir überhaupt hierher gekommen sind. Ich habe bereits von Rundtürmen gelesen, aber bisher noch nie einen aus der Nähe gesehen.«
Geduld, Gallagher, sagte er sich und vergrub die Daumen in den Taschen seiner Jeans. »Irgendjemand hat immer versucht, die Krone Irlands zu erobern. Aber wir haben uns
nicht unterkriegen lassen, sondern uns behauptet, meinen Sie nicht auch?«
»Ja, das haben Sie allerdings!« Sie drehte sich langsam um und betrachtete den Hügel, die Klippen und das Meer. »Dies ist ein wunderbarer Ort. Man spürt genau sein ehernes Alter.« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Das klingt sicher ziemlich lächerlich.«
»Nicht im Geringsten. Man spürt, wie alt er ist und auch wie heilig. Wenn man sich ein bisschen anstrengt, kann man sogar hören, was die Steine von alten Schlachten, Ruhm und Ehre singen.«
»Ich glaube nicht, dass ich besonderes Talent habe, den Gesang von Steinen zu hören.« Sie wanderte zwischen den verwitterten Grabsteinen und den blumengeschmückten Grabstätten herum. »Meine Großmutter hat mir erzählt, dass sie früher oft hierher gekommen ist. Sicher hat sie ein Ohr für solche Dinge gehabt.«
»Warum hat sie Sie auf dieser Reise nicht begleitet?«
»Darum hatte ich sie auch gebeten.« Abermals strich sie sich die Haare aus der Stirn und drehte sich zu Aidan um. Er passte gut hierher, an diesen alten, heiligen Ort, zu den Gesängen von längst vergangenen Zeiten und längst vergangener Größe.
Aber wohin passte sie?
Sie betrat die Ruine, die statt von Schindeln vom strahlend blauen Himmel überdacht wurde. »Wahrscheinlich soll ich etwas lernen – und zwar, wie ich innerhalb von sechs Monaten oder weniger die wahre Jude werde.«
»Kann diese Lektion erfolgreich sein?«
»Vielleicht.« Sie strich mit der Hand über die altirische Inschrift und spürte während eines, wenn auch kurzen Augenblicks, wie ihre Fingerspitzen prickelten.
»Und, was wünscht sich Ihrer Meinung nach die wahre Jude?«
»Das ist eine zu allgemeine Frage, auf die es allzu viele simple Antworten wie zum Beispiel Glück, Erfolg, Gesundheit gibt.«
»Haben Sie diese Dinge denn nicht schon?«
»Hm …« Wieder glitten ihre Finger über die uralten Steine, doch dann zog sie ihre Hand zurück. »Mit meiner Dozententätigkeit war ich, jedenfalls zuletzt, eher unglücklich. Ich habe meine Sache einfach nicht gut genug gemacht. Es ist entmutigend, in dem, was man als sein Lebenswerk erachtet, nicht gut genug zu sein.«
»Ihr Leben ist noch längst nicht vorbei, sodass Sie reichlich Zeit haben, sich etwas anderes zu suchen. Außerdem wette ich, dass Sie in dem, was Sie bisher gemacht haben, wesentlich besser waren, als Sie annehmen.«
Sie blickte ihn an und wandte sich zum Gehen. »Wie kommen Sie darauf?«
»Seit wir uns treffen, höre ich Ihnen gut zu
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