Insel des Sturms
Verlauf der folgenden Tage, während der Frühling in Waterford die letzten Spuren des Winters vertrieb, traf man Jude häufig entweder abends oder schon am Nachmittag im Pub. Sie hörte zu, nahm auf und machte sich Notizen. Da es sich herumgesprochen hatte, dass sie sich für alte irische Legenden interessierte, erschienen auch andere, entweder zum Erzählen oder ebenfalls zum Zuhören.
Kassette um Kassette und Seite um Seite ihres Blockes füllte sie, transkribierte und analysierte, während sie an ihrer inzwischen gewohnheitsmäßigen Tasse Tee nippte, die Geschichten sorgfältig an ihrem Laptop.
Wenn sie sich gelegentlich in die Geschichten von Liebe
und Magie hineinträumte, dann hielt sie das für harmlos, wenn nicht sogar nützlich. Schließlich vertiefte eine solche Identifizierung ihr Verständnis für die Bedeutung des Erzählten und die Motive der Handelnden eindeutig.
Doch ganz sicher ließe sie ihre persönlichen Schlüsse nicht in die Arbeit einfließen. In einem akademischen Aufsatz hatten Träume oder Fantasie nichts zu suchen. Sie ginge den Geschichten einfach auf den Grund, bis sie den Kernpunkt ihrer jeweiligen These zu fassen bekäme – dann formulierte sie das Ganze in der Fachsprache und striche sämtliche eigenen Ausflüge ins Reich der Fantasie.
Was willst du überhaupt am Ende mit der Arbeit machen?, fragte sie sich oft. Was kommt dabei heraus, wenn du so lange daran herumpoliert und gehämmert hast, bis das Ganze staubtrocken und langweilig geworden ist? Willst du versuchen, es in irgendeiner Fachzeitschrift zu veröffentlichen, die niemals jemand aus Vernügen liest? Hast du vor, damit auf eine Vortragsreise zu gehen?
Oh, bereits der Gedanke an diese wenn auch nur entfernte Möglichkeit weckte in ihr das ungute Gefühl, als bände eine ganze Truppe jugendlicher Pfadfinder Knoten in ein dickes Tau in ihrem Magen.
Während eines Augenblickes hätte sie beinahe ihr Gesicht zwischen den Händen vergraben und sich der Verzweiflung hingegeben. Aus diesen Aufzeichnungen, diesem Projekt würde niemals etwas werden. Es wäre idiotisch, sich da Illusionen hinzugeben. Niemand stünde je auf einem Fakultätsempfang herum und diskutierte die durch die Lektüre von Jude F. Murrays Dokumentation gewonnenen Eindrücke und Einsichten. Und schlimmer noch, sie wollte auch gar nicht, dass irgendjemand Interesse an ihrer Arbeit zeigte.
Diese sollte nämlich nichts anderes sein als eine Art Therapie, als eine Möglichkeit, sich aus einer Krise zu befreien, deren Natur ihr selbst ein vollkommenes Rätsel war.
Was hatten all die Jahre des Studiums und der Arbeit ihr genützt, wenn sie nicht einmal ihre eigenen Probleme beim Namen nennen konnte?
Geringes Selbstbewusstsein, angeschlagenes Ego, mangelnder Glaube an die eigene Weiblichkeit, Unzufriedenheit mit ihrer Karriere.
Aber was lag hinter alledem? Was war die eigentliche Ursache für ihr großes Unbehagen? Eine allzu verschwommene Identität? Vielleicht war sie ein Teil ihres Problems. Irgendwann hatte sie sich selbst so weit aus den Augen verloren, bis der Rest, der noch zu erkennen gewesen war, so farblos und so wenig anziehend gewirkt hatte, dass sie vor sich selbst davonlief.
Doch wohin war sie gelaufen?
Hierher, dachte sie, und war mehr als nur ein wenig überrascht, als ihre Finger, um mit ihren sich überschlagenden Gedanken mitzuhalten, über die Tasten des Laptops flogen. Ich bin hierher gelaufen – hier fühle ich mich irgendwie realer und auf alle Fälle heimischer als je in dem Haus, das ich zusammen mit William gekauft, oder in dem Apartment, das ich bezogen hatte, nachdem er meiner überdrüssig geworden war. Heimischer als je in einem Hörsaal an der Universität …
Herrjemine, wie habe ich die Hörsäle gehasst! Weshalb nur konnte ich das bisher niemals zugeben, weshalb konnte ich diesen Gedanken nie laut aussprechen? Ich will diesen Job nicht, will keine Dozentin sein. Es muss doch etwas anderes für mich geben. Irgendetwas anderes.
Wann wurde ich ein solcher Feigling und, schlimmer noch, so jämmerlich langweilig? Warum stelle ich selbst jetzt, da ich niemandem außer mir selbst gegenüber verantwortlich bin, dieses Projekt in Frage – obgleich es mir doch so viel Freude macht? Obgleich es mich mit einer derartigen Zufriedenheit erfüllt? Kann ich nicht wenigstens während meines kurzen
Aufenthalts in Irland einfach einmal etwas tun, was keinen soliden, garantiert vernünftigen Sinn und Zweck erfüllt?
Wenn diese Arbeit
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