Insel meiner Sehnsucht Roman
Wasserfalls. Wenn sie explodierten, würde der Schutt die Öffnung versperren, aus der die schäumende Kaskade floss.
Seine Hände in die Hüften gestemmt, schaute sich Royce um. Der Wind zerzauste sein Haar und ließ den kurzen akoranischen Faltenrock flattern, sein einziges Kleidungsstück. So unbesiegbar sieht er aus, dachte Kassandra. Und sie liebte ihn so sehr …
Auf dieser Insel, die sie niemals zu betreten erwartet hatte, konnte sie sich die wahren Gefühle ihres Herzens eingestehen. Joanna hatte es gewusst. Natürlich, sie kannte das unwiderstehliche Wesen der Liebe und spürte, wenn es seine Macht auf ihre Mitmenschen ausübte.
Ich liebe dich … Diese Worte sprach Kassandra nicht aus. Es genügte, dass sie in ihrer Seele widerhallten – bezwingend wie der Mann, dem sie galten, vor dem sie das Geständnis wiederholt hätte, wären die Umstände anders gewesen.
Ich liebe dich … Der Wind trieb ihr Tränen in die Augen, und sie zwinkerte sie fort, wandte sich aber nicht ab, denn Royces Anblick war zu kostbar.
Auf dem Plateau verlängerten sich die Schatten. Royce hob einen Arm und musterte seine geballte Hand. Fast – nicht ganz – noch ein paar Minuten.
»Gehst du etwa in die Höhlen?«, brachte Kassandra mühsam hervor.
»Nur wenn es unvermeidlich ist.« Angespannt lauschte Royce .
Das erste Geräusch erklang im Westen, aus unsichtbarer Quelle, aber sie hörten es klar und deutlich. Bald folgten ein zweites und ein drittes, dann krachte eine einzige Explosion, die kein Ende zu nehmen schien. Unter Kassandras Füßen bebte die Erde. Instinktiv streckte sie die Arme nach Royce aus, und er zog sie an sich, um sie zu stützen. Kaum waren die letzten Erschütterungen verebbt, ließ er sie los.
Als er zu den Fässern über dem Wasserfall spähte, ahnte sie seinen inneren Kampf und hielt den Atem an. Wie würde er sich entscheiden? Eine weitere entzündete Lunte – und Deilos wäre bei lebendigem Leib im Herzen Akoras begraben. Zweifellos würden das viele Menschen begrüßen.
Auch Royce?
Er bückte sich zur Zündschnur hinab, musterte den Rand des Plateaus, schien die Entfernung und die potenzielle Wirkung einer Detonation abzuschätzen.
»Sicher würdest du Deilos den Fluchtweg versperren«, bemerkte Kassandra.
»Aber wir wüssten nicht, ob er tot ist.«
»Die Karte …«
»… könnte ungenau sein«, unterbrach er sie, richtete sich auf und wischte die Hände an seinem Faltenrock an.
»Unwahrscheinlich, das weißt du.«
Da schaute er ihr zum ersten Mal seit vielen Stunden in die Augen. Diesem eindringlichen Blick konnte sie nicht ausweichen, obwohl sie es wollte – denn sie hatte ihn so schmerzlich verletzt.
»Im Grunde weiß ich sehr wenig«, entgegnete er, »viel weniger, als ich dachte.«
»Royce …«
Mit einer knappen Geste schnitt er ihr das Wort ab, trat näher an den Rand des Plateaus und beobachtete das Wasser, das aus dem Erdinneren rauschte.
Inzwischen war die Sonne im Meer versunken, die ersten Sterne funkelten, vom zunehmenden Mond leicht getrübt.
Kassandra setzte sich auf einen flachen Felsblock, zog die Knie an und spürte kaum, dass sie fror. Nun kehrten einige Männer zurück und gingen nahe dem Wasserfall in Stellung. Andere waren auf ihren Posten geblieben, um die verschütteten Höhleneingänge zu bewachen.
Langsam wanderte Royce auf dem steinigen, vom Mond versilberten Boden umher, in Licht gebadet, von hoch gewirbelten, glitzernden Wassertropfen umgeben.
Die Minuten verstrichen, Zukunft verwandelte sich in Gegenwart, dann in Vergangenheit. Mit tiefen Atemzügen sog Kassandra die Nachtluft in ihre Lungen und wunderte sich erneut, weil sie noch lebte. Sie würde die Sonne in einer Welt aufgehen sehen, die sie niemals kennen zu lernen erwartet hatte.
Und in dieser Welt würde sie ihren Platz suchen müssen. Ein Gedanke für später. Jetzt gab es nur den Mond, den geliebten Mann, den Augenblick. Sie erhob sich, verblüfft über ihre steifen, schmerzenden Beine, und ging zu Royce.
Als er sie kommen sah, blieb er stehen und runzelte die Stirn.
»Deilos kann sich Zeit lassen«, erklärte sie. »Selbst wenn er in den Höhlen eingeschlossen ist – er hat sich sicher mit Vorräten versorgt, die monatelang reichen werden.«
»Das würde er nicht ertragen. Eitelkeit und Geduld passen nicht zusammen.«
»Hältst du ihn für eitel?«
»Eher für verrückt. Du nicht?«
»Oh ja, von Machthunger besessen. Und er glaubt, er wäre unbesiegbar. Er muss wissen, dass du an
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