Insel meiner Traeume
Pflicht bewahrt werden - eine Art Unsterblichkeit ...
Hatte Helena daran gedacht? Ihretwegen waren Krieger auf tausend Schiffen nach Ilion gesegelt, um die »stolzen Türme« niederzubrennen. Hatte sie jemals überlegt, ob man sich an sie erinnern würde?
Hinter Joannas Augen pochten Kopfschmerzen. Sie wandte sich vom Spiegel ab. Doch das Bild der Frau blieb in ihrer Seele haften.
Nach dem Bad musste sie wohl oder übel englische Kleidung anziehen. Das war ziemlich unangenehm. Ihren ungeschickten Fingern fiel es nicht leicht, die Knöpfe des schlichten Kleids zu schließen, das sie aus dem Schrank genommen hatte. Viel zu schwer hing der Stoff an ihren Schultern, die Manschetten der kurzen Ärmel umspannten die Ellbogen zu eng, und der Rock blieb bei jedem Schritt an ihren Beinen hängen. Schlimmer noch - die Farbe, ein schlammiges Grün, glich sommerlichen Algen in einem ausgetrockneten Tümpel. Was war ihr bloß eingefallen, als sie dieses Kleid hatte schneidern lassen?
Darauf wusste sie keine Antwort, und so eilte sie aus ihrer Suite. Inzwischen zu lange von Royce getrennt, sorgte sie sich um ihn. Solche Ängste musste sie überwinden. Er erholte sich. Bald würde er sein normales Leben wieder aufnehmen. Ebenso sie selbst - obwohl sie vor der Frage zurückschreckte, wie ihr das gelingen sollte...
Ihr Bruder erwartete sie im kleineren der beiden Speiseräume, der benutzt wurde, wenn sie intim dinierten. Auch er hatte gebadet und saubere Sachen angezogen. Früher hatten der Gehrock und die Weste tadellos gesessen, jetzt umhüllten sie schlotternd seine dünne Gestalt. Aber Joanna konnte nicht bestreiten, dass er besser aussah als das erbärmliche Skelett, das sie so verzweifelt beweint hatte. Er war frisch rasiert, so wie immer seit der Abreise aus Akora, und sein Gesicht leicht gebräunt. An Bord des Schiffs hatte sie sein Haar geschnitten. Über der Stirn straff nach hinten gekämmt, wirkte es wie eine goldene Mähne. Noch wichtiger erschien ihr der kraftvolle, entschlossene Ausdruck seiner Augen, die in der Farbe ihren eigenen ähnelten.
Ja, er war der Bruder, den sie kannte - beinahe.
Royce musterte sie seinerseits und runzelte die Stirn. Zehn Tage lang hatte er sie in den akoranischen Gewändern erblickt, die ihr so erstaunlich gut standen und die Mängel der englischen Mode überdeutlich hervorhoben. »An dieses Kleid erinnere ich mich nicht.«
Sie setzte sich auf den Stuhl, den ihr ein Lakai zurechtrückte, beschäftigte sich mit ihrer Serviette und breitete sie etwas umständlich über ihren Schoß. »Gibt es einen besonderen Grund, warum du es solltest?«
»Wahrscheinlich nicht. Auf solche Dinge habe ich nie geachtet.« Dieses Versäumnis schien Royce, der stets ein fürsorglicher Bruder gewesen war, zu überraschen.
»Oh, ich auch nicht«, betonte sie fröhlich. »In Hawkforte wollte ich immer nur bequeme Kleider tragen, die nicht allzu schrecklich aussahen, wenn sie mit Grasflecken oder Schlammspritzern beschmutzt wurden.«
»Fühlst du dich jetzt anders?«
Joanna rückte ihre Serviette noch einmal zurecht und spürte die Last der Lügen auf ihrer Seele. Nein, keine Lügen, nur Unterlassungssünden. So nahe hatten sie sich immer gestanden, Bruder und Schwester, und sie wünschte, es könnte wieder so sein. »Nun, die Menschen ändern sich, nicht wahr?«
»Darüber habe ich nachgedacht - ob du dich ändern würdest. Nicht dass ich ein eitles, dummes Gänschen aus dir machen möchte... Aber ich frage mich, ob du glücklicher wärst, wenn du deinen Horizont etwas erweitern würdest.«
»Wenn ich nicht so viel Zeit auf Hawkforte verbringe?«
»Ja, das meine ich. Ich bedauere zutiefst, dass ich während der einzigen Saison, der du zugestimmt hast, nicht in London war. Hättest du jene Monate etwas mehr genossen, wärst du vielleicht hin und wieder in die Stadt gefahren.«
»Daran zweifle ich, weil mich die Londoner Gesellschaft furchtbar langweilt. Außerdem fanden auf dem Kontinent Ereignisse statt, die deine Aufmerksamkeit erforderten.«
»Ich habe dir nie erklärt, worum es damals ging.«
»Ach, du lieber Himmel, das war auch gar nicht nötig. Napoleon wollte Englands Handel mit seiner Kontinentalsperre in die Knie zwingen. Allein schon der Gedanke war absurd, ein Schiff könnte nach einem Aufenthalt in einem britischen Hafen gekapert werden, sobald es irgendwo ankerte, wo Bonaparte das Sagen hatte. Jedenfalls brachte ihm diese Maßnahme eine Menge Ärger ein, bis sie schließlich im Sand
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