Insel meiner Traeume
es denkbar, dass man dir absichtlich falsche Informationen gab, für den Fall, du würdest entkommen. Oder vielleicht wollte man dich irgendwann sogar aus deinem Gefängnis befreien.«
Halb und halb erwartete sie, ihr Bruder würde diesen Gedanken sofort verwerfen. Ein so verzwicktes Komplott musste der geradlinigen Denkungsart eines Engländers unvorstellbar erscheinen. Aber Royce überraschte sie. Aufmerksam hatte er zugehört. Und nun enträtselte er prompt, was sie nicht aussprechen wollte.
»Einige Akoraner versuchen, die Atreiden zu stürzen.«
»Ist das eine Frage?«
»Nein, die einzige Erklärung, die zu alldem passt, was du mir erzählst - beziehungsweise nicht erzählst. Wir hielten Akora stets für eine uneinnehmbare Festung, deren Bewohner die Außenwelt mit vereinten Kräften abwehrt. Und die Akoraner taten ihr Bestes, um uns diesen Eindruck zu vermitteln. Die ersten Zweifel bekam ich auf dem Binnenmeer, kurz vor meiner Festnahme. Dass Akora keine Insel, sondern eine Inselgruppe ist - diese geographische Erkenntnis bewog mich, verschiedene Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.« »Sogar dieses Wissen, im Besitz eines Xenos, könnte die Akoraner bedrohen. Ist dir das klar?«
»Fühlen sie sich bedroht?«
»Wie sollten sie es nicht ? Nach allem, was in der Welt ringsum geschieht?«
»Und warum durften wir abreisen?«
»Keine Ahnung«, gestand Joanna. »Aber da Alex ein halber Brite ist und einige Zeit in England verbracht hat, weiß er, welche Konsequenzen es nach sich ziehen könnte, wenn man uns auf Akora festgehalten hätte.«
»Glaubst du, er hat seinen Bruder dazu überredet, uns gehen zu lassen?«
»Das nehme ich an.«
Royce schaute ihr eindringlich in die Augen. »Stellt er seine Pflichten über persönliche Neigungen?«
Viel zu kalt rann der Wein durch Joannas trockene Kehle, und es dauerte eine Weile, bis sie fragte: »Was meinst du?«
Statt zu antworten, schenkte er ihr ein Lächeln, das bei ihren nächsten Worten erlosch.
»Sosehr es mir auch widerstrebt, dir das mitzuteilen -nach allem, was du mir vorhin anvertraut hast, sollte deine Gruppe aufrechter Engländer vielleicht erfahren, was die Akoraner bedrückt.«
»Und das wäre?«
Nach einem tiefen Atemzug fuhr sie fort und hoffte inständig, richtig zu handeln. »Sie glauben, Großbritannien plant eine Invasion ihres Landes.«
Nun erwartete sie, Royce würde betonen, diese Befürchtung sei völlig absurd. In einen Krieg auf dem Kontinent verstrickt, im Kampf gegen Napoleon, benötigten die Engländer alle ihre Ressourcen, um zu überleben. Warum sollten sie woanders einen neuen Konflikt suchen wollen?
Doch die Minuten verstrichen, und Joanna hörte nichts dergleichen. Royces durchdringender Blick jagte einen seltsamen Schauer über ihren Rücken. Da wusste sie, warum er zu seiner gefährlichen Reise aufgebrochen war.
Ausdruckslos fragte er: »Das wissen sie?«
Plötzlich verwandelte sich die Kälte, die Joannas Herz erfasst hatte, in einen fieberheißen Albtraum. »Meinst du - es ist wahr?«
Der Lord von Hawkforte stellte seinen Weinkelch ab und lehnte sich zurück. »Warum wäre ich sonst nach Akora gesegelt?«
17
In dieser Nacht fand Joanna keinen Schlaf. Trotz der weit geöffneten Fenster war es heiß und stickig in ihrem Schlafzimmer. Die Matratze fühlte sich klumpig an, die Laken kratzten, und eine Maus, die in der Wand hinter ihrem Kopf rumorte, trieb sie fast zum Wahnsinn. Schließlich gab sie sich geschlagen und schlüpfte in einen dünnen Morgenmantel. Auf dem Weg zur Treppe spähte sie in die Suite ihres Bruders. Wie sie vermutet hatte, lag er nicht in seinem Bett, und sie eilte nach unten.
Die Halle führte durch die Mitte des Hauses von der Vorderseite bis zur Rückfront. Hinter dem Gebäude lag ein kleiner, von hohen Mauern geschützter Garten, den sich Rosenbüsche und Kräuterbeete mit einem alten Apfelbaum teilten. Royce saß unter den ausladenden Zweigen an den knorrigen Stamm gelehnt.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte er, als sie zu ihm ging.
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich neben ihn. Auch hier draußen erschien ihr die windstille Luft schwül, obwohl das Gras kühl und feucht war. »Und du?«
»Allmählich wird’s besser.« Im Mondlicht sah sie ihn lächeln. »Wer weiß, vielleicht werde ich im Winter wieder drinnen schlafen.«
»Hoffentlich.« Sein Versuch, das Problem herunterzuspielen, rührte Joanna. »Nach allem, was du durchgemacht hast, mussten wir damit rechnen.
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