Insel meiner Traeume
der Mitte des 16. Jahrhunderts in Indien herrscht. Mit indischer Kunst kennen Sie sich doch bestens aus, nicht wahr? Und jene außergewöhnliche Epoche...«
Sie wanderten davon, kamen aber nicht weit. Ein schlanker, bleicher Mann versperrte ihnen den Weg. Er war schmucklos gekleidet, fast kahl bis auf einen gepuderten Haarkranz über den Ohren und presste seine dünnen, farblosen Lippen zusammen.
»Ah, Perceval«, sagte der Prinzregent ohne sonderliche Begeisterung. »Schauen Sie, Hawkforte ist wieder da.«
Höflich verneigte sich der Premierminister. »Majestät, Mylord... Lady... ?«
Joanna wurde vorgestellt und prompt ignoriert, denn Perceval konzentrierte seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf Royce. »Was Ihre Person betrifft, erging man sich in wilden Spekulationen, Hawkforte. Wenn man den Gerüchten glauben darf, müssten Sie von den Toten auferstanden sein.«
»Nach meiner Erfahrung sind Gerüchte nicht allzu vertrauenswürdig, Sir.«
In das bleiche Gesicht stieg eine leichte Röte. Trotzdem wirkte der Premierminister immer noch eher tot als lebendig. »Trotzdem muss ich mit Ihnen reden. Wie ich annehme, haben Sie faszinierende Abenteuer erlebt.«
»Eigentlich war’s eher langweilig. Allzu weit kam ich nicht herum.«
Joanna schnappte vernehmlich nach Luft, und der Prinzregent musterte sie verwirrt. Aber er meisterte das Problem grandios, womit er ihre tiefe Dankbarkeit gewann. »Damit müssen Sie eine Weile warten, Spencer. Ich habe Hawkforte - und natürlich auch Lady Joanna - versprochen, ihnen die Pläne zu zeigen.«
Offenbar wusste der Premierminister, um welche »Pläne« es ging. Er verdrehte die Augen und murmelte irgendetwas über »enorme Kosten«. Doch seine Worte verhallten unbeachtet, als Prinny mit seinen beiden Gästen weitereilte.
Die Zeichnungen lagen auf einem Tisch in seinem Privatsalon, der einem Khan alle Ehre gemacht hätte, und wurden wortreich gelobt. Mit Recht, dachte Joanna. Die kunstvollen Skizzen für die Neugestaltung der Außenmauern waren bemerkenswert. Zweifellos besaß der Prinzregent einen exquisiten Geschmack. Allerdings passte dieser Stil nicht zu einer ländlichen englischen Gegend - als hätte sich Prinnys Seele im falschen Zeitalter an den falschen Ort verirrt.
Zwischen den Kommentaren zu den Entwürfen wechselten Royce und der Prinzregent ein paar leise Worte. Da Joanna auf der anderen Seite des breiten Tisches stand, hörte sie nicht alles, doch sie gewann den Eindruck, ihr Bruder würde Seine Majestät beruhigen.
Bald danach kehrten sie in den Ballsaal zurück, wo die Tenth Light Dragoons gerade eine fröhliche Melodie intonierten. Diese Kapelle zählte zu Prinnys Favoriten. Wie böse Zungen behaupteten, tat sie sich vor allem durch ihre Lautstärke hervor. Prinny eilte sofort zu den Musikern. Enthusiastisch schlug er den Takt auf seine dicken Schenkel. Royce und Joanna konnten ihm nicht folgen, selbst wenn es ihr Wunsch gewesen wäre, denn sie wurden augenblicklich von Gästen umzingelt, die sich mit ihnen unterhalten wollten.
Da sich Joanna entsann, wie geflissentlich sie auf dem Fest im Carlton House ignoriert worden war, staunte sie über ihre plötzliche Popularität, die sie ausschließlich ihrer Verwandtschaft mit Royce zuschrieb. Trotzdem wurde sie, durch das Gedränge von ihrem Bruder getrennt, von mehreren jungen Gentlemen umringt, die sich für sie völlig überraschend um ihre Gunst bemühten.
Während sie die Aufmerksamkeit ihrer Verehrer genoss -einige waren wirklich sehr charmant und geistreich -, verstummten die Gespräche im ganzen Saal. Alle Gäste, auch Joanna, richteten ihren Blick zur Tür, und das Gelächter blieb ihr im Hals stecken.
Atemlos starrte sie den Mann an, der allein auf der Schwelle stand - ganz in Schwarz, bis auf die weiße Spitze am Hals und an den Handgelenken, wo sie seinen Puls gespürt hatte. Doch die Kleidung, obwohl superb geschneidert, spielte keine Rolle neben der Macht seiner natürlichen Ausstrahlung, die er so bezwingend zur Schau trug. Sein Haar, dunkle Seide unter ihren Fingern, war zurückgekämmt und betonte die maskuline Schönheit seiner Züge, die sie während seines Schlafs betrachtet hatte. Mit Ausnahme ihres Bruders überragte er sämtliche anwesenden Männer, und so versperrte ihm niemand die Sicht. In seinen Augen, die Joannas Bild widergespiegelt hatten, las sie distanzierte Kälte.
Langsam wanderte sein Blick über all die Menschen hinweg, bis er schließlich an ihr haften blieb -
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