Insel meiner Traeume
bis zum Hals, als sie aus dem Schatten sprang und die Gasse zum Pier hinabrannte. Hinter ihr verhallten Noggins und Clappers Stimmen. Vielleicht waren sie vom Dach gestiegen, um die Wächter möglichst weit wegzulocken. Doch die Akoraner würden ihnen wohl kaum folgen. Sobald sie merkten, dass ihr kostbares Lagerhaus in Sicherheit war, würden sie zum Schiff zurückkehren. Also blieb ihr nicht viel Zeit.
Vor ihr ragte der Bug mit dem Stierkopf empor, kam immer näher, während sie darauf zulief, und verdeckte alles andere in ihrer Sichtweite. Sehnsüchtig dachte sie an Hawkforte, das Heim, in dem sie sich stets so geborgen gefühlt hatte, an den friedlichen Alltag. Dieses Glück würde ihr wieder beschieden sein, wenn sie jetzt der Stimme ihrer Vernunft gehorchte und ihren gefährlichen Plan aufgab.
Und dann dachte sie an Royce.
Sie musste nicht überlegen, was sie tun sollte. Denn die Entscheidung hatte bereits in all den stillen und lebhaften, heiteren und traurigen Momenten der geschwisterlichen Verbundenheit festgestanden. Immer waren sie füreinander da gewesen. Und daran würde sich nichts ändern.
Noch ein Atemzug - ein kurzes Innehalten, um sich mit Mut zu wappnen...
Joanna sprang hoch, die Hände nach einem Tau ausgestreckt. Unter ihr verschwanden das Dock, das Land, die Welt, die sie kannte, in einem gewaltigen Schwall, der sie erschreckte und zugleich entzückte.
Für einen Sekundenbruchteil schwebte sie zwischen der Realität, der sie entglitt, und der nächsten - bevor sie das Tau umklammerte, das sich hart wie Stein anfühlte. Sie krallte ihre Finger hinein, wurde herumgewirbelt und starrte plötzlich zum Himmel hinauf. Beharrlich kletterte sie hoch, bis ihr Kopf gegen den Schiffsrumpf schlug, und entdeckte das nächstgelegene Bullauge, das offen stand, so wie es Clapper prophezeit hatte. Glücklicherweise war es groß genug, und sie würde sich hindurchzwängen können. Das Seil zwischen die Knie gepresst, tastete sie nach dem unteren Rand der Luke und zog sich heran. Zuerst schob sie den Kopf hindurch, von den Schultern gefolgt. Etwas Scharfkantiges zerkratzte ihren Arm. Aber sie nahm es kaum wahr. Hinter ihr baumelte das Tau, und sie kämpfte sich in die Finsternis hinein.
Nicht einmal eine ganze Minute - eine halbe Ewigkeit...
Sie fiel auf hartes Holz. Keuchend blieb sie liegen. Trotz der milden Nacht fror sie. Ihre Glieder zitterten. Instinktiv krümmte sie sich zusammen und schlang ihre Arme um die Knie. Nach einer Weile hob sie den Kopf und schaute sich um. Außer den Mondstrahlen, die durch das Bullauge hereindrangen, sah sie keinen einzigen Lichtschimmer. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, machte sie aneinander gereihte Kojen über eingebauten Spinden aus. In der Mitte des Raums war ein Tisch im Boden verankert, mit Bänken an den Längsseiten, an Wandhaken hingen Schilde und Waffen.
Offenbar befand sie sich im Quartier der Besatzung, das auch die Wächter benutzten. Diesen Männern musste sie ausweichen. Zum Glück hielt sich keiner hier auf. Doch das würde sich womöglich jeden Moment ändern.
Joanna erhob sich, ignorierte den Schmerz in ihrem Arm und rannte zur Tür an der anderen Seite des Raums. Ohne die Gefahr zu bedenken, sie könnte dahinter jemanden antreffen, stürmte sie hindurch. Dann seufzte sie erleichtert, denn sie spähte in einen menschenleeren Korridor. Etwa zehn Schritte weiter vorn entdeckte sie eine Falltür, lief hin und umfasste den Metallgriff. Mit einiger Mühe zog sie die Tür hoch und starrte in einen schwarzen Abgrund. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass sie den Laderaum gefunden hatte. Prompt eilte ihre Fantasie voraus, als wäre sie bereits von der Dunkelheit verschluckt worden. Sie zögerte kurz, schaute in alle Richtungen, suchte erfolglos einen anderen Fluchtweg.
Direkt über ihrem Kopf erklangen Schritte, Stimmen schienen sich zu nähern. Da sie keine Wahl hatte, schickte sie ein stummes Gebet zum Himmel, glitt nach unten und schloss die Falltür hinter sich.
Sie stieg eine Leiter hinab, und ihre Füße landeten am Boden des Laderaums. Ringsum herrschte undurchdringliche Finsternis. Von panischer Angst erfüllt, zwang sich Joanna, langsam und ruhig zu atmen. Weil das ihre Nerven nicht beruhigte, dachte sie an Royce. Die Erinnerung an den Bruder und ihre Liebe zu ihm stärkten ihren Mut, den sie beinahe verloren hätte. Allmählich ließ die Furcht nach, lauerte nurmehr am Rand ihres Bewusstseins, wo sie ihr nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher