Insel meiner Traeume
in einem anderen. Unbemerkt hatte sich der Seegang verstärkt. Einen Arm um Joannas Taille geschlungen, hielt sich Alex am Tisch fest. Ihre Augen hatten sich verdunkelt, reglos lehnte sie an ihm.
Ein scheues Reh?
Oder ein Habichtweibchen, das auf heißem Luftstrom dahingleitet. Kurz bevor es zuschlägt...
»Wirst du deine Rolle spielen?«, fragte er.
Sie nickte. »Meinem Bruder zuliebe.«
Und während das Schiff immer heftiger schlingerte, erkannte er, dass sie log.
Oder vielleicht hoffte er nur darauf.
6
Zitronenduft weckte Joanna. Von den Erinnerungen eines Traums verfolgt, der ihr aber immer mehr entglitt, richtete sie sich langsam auf. Immer noch schlaftrunken, schaute sie zu den offenen Bullaugen hinüber. Der Himmel zeigte das dunstige morgendliche Blau, bevor die Sonne den letzten Rest des nächtlichen Nebels verdunsten ließ.
In die Kajüte drang eine wärmere Brise als am Vortag. Aber deshalb war sie nicht erwacht. Duftende Zitronen hatten sie aus ihrem Traum in die Wirklichkeit zurückgeholt. Oder vielleicht waren sie ein Teil ihres Traums gewesen. Sie holte tief Atem. Plötzlich erschien vor ihrem geistigen Auge der Rasen von Hawkforte, nicht nur wie ein Fantasiebild oder eine Erinnerung, sondern viel deutlicher. Das üppige Grün reichte vom Haus bis zum Meer hinab, und sie sah sich selbst im Gras sitzen, an einem Glas Limonade nippen.
Ihre Neugier trieb sie aus dem Bett. Hastig streifte sie eine Tunika über den Kopf, fuhr mit den Fingern durch ihr Haar und spähte zur Kabinentür. Seit Alex sie vor drei Tagen über die Rolle informiert hatte, die sie auf Akora spielen musste, hatte er wie gewohnt die Mahlzeiten gebracht. Bei diesen kurzen Begegnungen war sein Verhalten untadelig gewesen. Nicht einmal zufällig berührte er sie. Und er küsste sie auch nicht.
Schade...
Was für schockierende Gefühle sie hegte! Wahrscheinlich weil sie ohne die seltsamen, oft unsinnigen Regeln aufgewachsen war, die den Frauen von der Gesellschaft auferlegt wurden... Nun stand sie kurz vor der Erfüllung ihres Traums, ins unerbittlich befestigte Königreich Akora zu gelangen, und dachte unentwegt an jenen Kuss.
Nicht dass sie nie zuvor geküsst worden wäre... Das hatte sich ein übereifriger Stallbursche eines Tages erdreistet. Wenigstens hatte sie sich diesmal etwas damenhafter benommen, statt ihre Faust zu schwingen und Darcourts Nase zu brechen. Auf diesen Gedanken war sie gar nicht gekommen, und darin lag das Problem, denn sie hatte ganz andere Möglichkeiten erwogen. Sonderbar - im reifen Alter von vierundzwanzig Jahren merkte sie zum ersten Mal, welch eine lebhafte Fantasie sie in dieser Hinsicht hatte.
Vielleicht lag das an der überwiegend weiblichen Gesellschaft, in der sie auf Hawkforte gelebt hatte. So wie sie wusste, was ein roter Sonnenuntergang ankündigte oder wann ein Mutterschaf lammen würde, war ihr mit der Zeit klar geworden, die Männer und ihre Begierden könnten erregend wirken. Doch diese Erkenntnis hatte sie nicht auf die Realität vorbereitet, auf die Emotionen, die ein einziger Kuss zu wecken vermochte. Sicher hing es auch mit Alex’ unleugbarer Anziehungskraft zusammen.
Was hatte er behauptet? Eine Akoranerin, die an einen Mann gebunden war, hätte keinen Grund, sich woanders zu vergnügen, denn sie würde genug Erfüllung finden? Was das bedeutete, durfte sie eigentlich nicht verstehen. Aber sie wusste es. Zumindest ahnte sie es.
Oh Gott, es war wirklich viel wärmer geworden, und es erschien ihr viel vernünftiger, diese Gedanken zu verdrängen und sich auf die Zitronen zu konzentrieren.
Auf dem Tisch stand ein Frühstückstablett. Also hatte sie schon wieder zu lange geschlafen. Wie peinlich... Gewiss lag es an ihren unruhigen Nächten. Sie ignorierte die Mahlzeit, ebenso die Tatsache, dass Alex ihren Schlummer beobachtet hatte, rückte einen Stuhl vor ein Bullauge und stieg darauf. Dann beugte sie sich weit hinaus, den Oberkörper über dem Wasser, das glitzerndes Sonnenlicht widerspiegelte. Schnuppernd drehte sie den Kopf hin und her.
In dieser Pose wurde sie von Alex überrascht, der zu Mittag in die Kabine kam und sich laut genug räusperte, um seine Anwesenheit kundzutun. So anmutig wie möglich zog sie sich aus der Luke zurück, sprang vom Stuhl und setzte eine Miene fröhlicher Unschuld auf.
»Was für ein schöner Tag, Mylord!« Vorerst konnte sie sich nicht dazu durchringen, ihn Kreon zu nennen. Sobald sie Akora erreichten, würde sie es schon schaffen. Ihrem
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