Insel meiner Traeume
sie, denn Sida sollte nicht in die Lage geraten, eine Erklärung verweigern zu müssen. Das wäre der Frau sicher peinlich. Oder sie würde sogar die Fassung verlieren.
Als sich Sida mit den gestapelten Stoffen entfernte, hätte Joanna sie beinahe zurückgerufen und sich erkundigt, wann Prinz Alexandros schätzungsweise seine Suite aufsuchen würde. Doch die Stimme der Vernunft hinderte sie daran. Wenn sie Alex’ Konkubine war, ein rein theoretisches wenn, ergänzte sie, wenn sie in leidenschaftlichem Ungestüm ihre Kleider vergessen und wenn er die heiligen akoranischen Gesetze gebrochen hatte, um mit ihr hierher zu segeln -dann musste sie, all diese wenns zusammengenommen, natürlich vermuten, er würde bei der erstbesten Gelegenheit zu ihr eilen. Deshalb musste sie sich nicht danach erkundigen.
Wenn.
Joanna verdrängte diesen Gedanken, atmete tief durch und konzentrierte sich auf ihren Bruder.
An Bord der Nestor hatte sie ihren Geist vergeblich angestrengt, um Royces Aufenthaltsort zu ermitteln. Aber nun war sie auf Akora, wo es irgendwelche Anhaltspunkte geben musste. Sie zwang sich zur Ruhe und blickte in ihre Seele. Dort entdeckte sie nur Verwirrung und Sorge. Das würde ihr nichts nützen. Ungeduldig runzelte sie die Stirn und versuchte es noch einmal, ohne Erfolg. Die Angst, niemals etwas zu finden, stieg plötzlich in ihr auf und beschleunigte ihren Herzschlag.
In ihre bittere Enttäuschung mischte sich Zorn. Mühelos spürte sie ein Maßband auf, eine Zeitung, lauter belanglose Gegenstände, und der geliebte Bruder blieb außerhalb ihrer Reichweite.
Außerhalb der Reichweite von allen Menschen?
Durch ihre Fantasie glitt eine Vision. Royce stand in der Bibliothek, dem Raum, den sie beide bevorzugten, und lachte über die Bedenken seiner Schwester. »Zu Weihnachten bin ich wieder bei dir... Sorg dich nicht...«
Weihnachten war gekommen und gegangen. Aus den Schornsteinen der Kamine von Hawkforte quoll Rauch. Schnee bedeckte das Land. Grau und düster rauschte das Meer. Wie üblich wurde das Fest gefeiert. Aber Joanna empfand nicht die gewohnte Freude. Der Winter wollte kein Ende nehmen. Bald hatte sie begonnen, die Tage zu zählen.
In ihren Ohren hallte die Stimme des Bruders wider. »Ich muss hinfahren... Dafür gibt es Gründe... Die Dinge sind nicht so, wie sie sein sollten...«
Im Frühling hatte sie das Erwachen der Erde nicht so wie sonst wahrgenommen, ihren Alltag mechanisch bewältigt, die bedrückten, ebenfalls von wachsender Angst erfüllten Dienstboten und Dorfbewohner zu trösten versucht.
»Die Regierung ist beunruhigt - und Prinny unfähig, eine Entscheidung zu treffen... Mal schwankt er in diese Richtung, mal in jene... Und es gibt Elemente - törichte, skrupellose Elemente, die ihn beeinflussen...«
Vom europäischen Kontinent waren widersprüchliche Neuigkeiten herübergedrungen. Anscheinend hielt Wellington seine Stellung auf der spanischen Halbinsel. Aber Napoleon zeigte sich seit der Geburt seines Sohnes und Erben am Jahresanfang aggressiver denn je, ein Halbgott des Kriegs, mit unersättlichem Appetit auf Eroberungen. Und England, von eigenen Ambitionen getrieben, litt immer noch am Verlust der amerikanischen Kolonien und schielte gierig nach Australien - Indien - vielleicht Akora?
»Hoffentlich sind die Akoraner vernünftiger. Das müssten sie sein, nicht wahr? Weil sie so lange überlebt haben...«
»Um Gottes willen, Royce, nimm dich in Acht. Du kennst die Gerüchte...«
»Immerhin hat’s Darcourts Vater geschafft. Und außerdem kursieren noch andere Gerüchte, Schwesterchen, selbst wenn du nichts davon weißt. Ob du’s glaubst oder nicht...«
Jenes strahlende Lächeln, das sein zumeist ernstes, attraktives Gesicht stets verwandelte. Dann ein zärtlicher Nasenstüber wie in der Kindheit. Eine letzte liebevolle Umarmung, und er rannte die steinernen Eingangsstufen hinab und schwang sich in den Sattel des schwarzen Wallachs, den er jeder Kutsche vorzog. Auf halber Strecke der langen, von Kastanien gesäumten Zufahrt drehte er sich um und winkte. Mit einem gezwungenen Lächeln hatte Joanna den Gruß erwidert, schon damals von quälender Furcht erfasst.
Royce...
So stark, so vital, der Mittelpunkt ihres Daseins. Würde er nicht mehr unter den Lebenden weilen, müsste sie’s wissen.
Aber das wusste sie nicht. Ganz in Gegenteil, wann immer sie sich in die Stille ihres Herzens vertiefte, konnte sie ihn - beinahe - berühren.
Die Finger am Fenstersims, zuckte sie leicht
Weitere Kostenlose Bücher