Insel meines Herzens
Kassandra.«
»Natürlich gebe ich dir mein Wort. Was immer ich für dich tun kann...« Mitten im Satz verstummte sie und berührte ihren Bauch.
»Alles in Ordnung?«, fragte Atreus.
»Ja, es ist nur – seit wir hier sind, strampelt mein Baby viel kräftiger.«
Erleichtert, weil sie nicht in Gefahr war, atmete Atreus auf. »Das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen, willst du dein erstes Kind auf Akora zur Welt bringen?«
»Das weiß ich nicht genau. Zunächst dachte ich, er müsste auf Hawkforte geboren werden. Übrigens, es ist ein Junge, da bin ich mir ganz sicher. Und weil Hawkforte sein Heim und sein Erbe ist, wollte ich die Niederkunft in diesen alten Mauern abwarten. Aber dann, vor etwa einem Monat, hatte ich plötzlich das Gefühl, er müsste hier das Licht der Welt erblicken.«
Verständnisvoll nickte Atreus. »Ich habe über deine Worte nachgedacht – über die zahlreichen Wege, die in die Zukunft führen, und dass es an uns ist, eine Wahl zu treffen. Vielleicht wird sich auch dieses Kind für irgendetwas entscheiden müssen.«
»Vermutlich...« Seine geliebte Schwester schaute zu ihm auf. Unter ihrem Herzen trug sie ein Kind, das er bereits kannte. »Versuchst du mir irgendetwas zu sagen, Atreus?«
Er dachte an die Höhlen, an den Tempel. Und was ihm einst so klar erschienen war, hüllte sich jetzt in dunkle Schleier. »Nur eins – es gibt unendlich viele Wege. Komm jetzt, gehen wir zu Royce, bevor er sich Sorgen um dich macht.«
Widerstandslos folgte sie ihm. Doch sie warf einen prüfenden Blick in seine Richtung, den er ignorierte. Resignierend setzte er seinen Weg fort – nicht den erwählten, sondern einen aufgezwungenen, unausweichlichen Weg.
Am nächsten Morgen lockte die Gerichtsverhandlung eine noch größere Menschenmenge in den Palasthof als am Vortag. Gespannt warteten die Leute auf die Vernehmung des Mannes, der angeblich so grausige Verbrechen begangen hatte, dass man nur hinter vorgehaltener Hand darüber munkelte. Davon wusste Brianna nicht viel, wenn auch genug, um rechtzeitig einen Platz am Fuß der Treppe zu ergattern.
Polonus tauchte nirgendwo auf. Nach Leoni und Marcus, die den Prozess zweifellos verfolgen würden, hielt sie nicht Ausschau. Irgendwann musste sie mit ihnen reden – wenn der Schmerz über den Verrat, den sie an ihr begangen hatten, einigermaßen abgeklungen war.
Als Atreus erschien, sah sie ihn an und sofort wieder weg, um seinem Blick auszuweichen. Diesmal wirkte er nicht so müde wie am Vortag. Aber seine versteinerte Miene erweckte den Eindruck, er hätte alle menschlichen Gefühle in seinem Innern verschlossen, um sich gegen den Auftritt seines schlimmsten Feindes zu wappnen.
Wie Stein – genauso unnachgiebig sah er aus. Brianna wusste, dass er ein gerechtes Urteil anstrebte. Trotzdem fragte sie sich unwillkürlich, ob er überhaupt fähig war, Barmherzigkeit zu empfinden.
Sobald er sich setzte, wuchs die fast greifbare Spannung im Publikum. Von Wachtposten umzingelt, durchquerte ein Mann den Hof. So wie alle Zuschauer stand auch Brianna auf, um ihn genauer zu betrachten. Konnte das Deilos sein? Eher unscheinbar, stellte sie fest, kleiner als die meisten Akoraner und spindeldürr. Die scharf gezeichneten Züge zeigten keine Angst. Unentwegt schweifte sein Blick hin und her, glitt über die dicht gedrängte Menschenmenge hinweg. Als er sich dem Podium näherte, grinste er verächtlich und hob seine Hände.
Nein, eine Hand... Der rechte Arm endete in einem Stumpf.
Also stimmte die Geschichte, die Brianna gehört hatte. Während Atreus bewusstlos gewesen war, an der Grenze zwischen Leben und Tod, hatte Royce, den die Akoraner »Lord Hawk« nannten, Jagd auf Deilos gemacht. Diesen Mann wollte er töten, denn er gefährdete Prinzessin Kassandra und hatte ihn selbst in grausamer Gefangenschaft gehalten. Aber im letzten Moment, von Kassandra beschworen, ließ er Deilos leben, um ihn vor Gericht zu bringen. Nur die rechte Hand und die Freiheit hatte Royce ihm genommen.
Und jetzt lag es an Atreus, ob Deilos auch sein Leben verlieren würde.
»Heil dir, Vanax!«, rief der Angeklagte höhnisch. »Sei gegrüßt, erwählter Herrscher von Akora. In tiefer Demut stehe ich vor dir.«
Atreus schwieg eine Zeit lang. Auf seinem Stuhl zurückgelehnt, musterte er seinen Feind ausdruckslos. Schließlich begann er zu sprechen. »Du stehst vor Gericht, um zu hören, was man dir vorwirft, um die Beweise gegen dich zu entkräften, wenn du es kannst, und ein
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