Insel meines Herzens
Gedanken allein bleiben, und so blieb sie sitzen und wartete auf das Ende der Pause.
»Ist das nicht ein grandioses Theater?«, fragte Polonus und nahm neben ihr Platz.
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Was sie sah, bereitete ihr Sorgen. Offenbar hatte er nicht geschlafen, seine Wangen waren unrasiert, die Augen rot gerändert und voller Zorn. »Nach meiner Ansicht ist der Prozess gerecht«, erwiderte sie.
»Gerecht? Wie kannst du das behaupten, wenn fast alle Zeugenaussagen von Atreiden stammen?«
»Da sie direkt in den Fall verwickelt sind, müssen sie ihre Erlebnisse schildern.«
»Und du glaubst, sie sagen die Wahrheit?«
»Warum sollten sie lügen? Deilos war ein Mitglied des Kronrats, also nahm er eine respektable Position ein. Es war sein Entschluss, alles zu verraten, was er in Ehren halten sollte.«
»Heilige Götter im Himmel, du verstehst gar nichts! Merkst du denn nicht, dass die Atreiden jeden vernichten wollen, der von ihren Traditionen abweicht? Deilos war mutig genug, sich gegen den Vanax zu stellen. Und das ist jetzt sein Lohn.«
Beinahe wurde ihr übel. Bedrückt starrte sie ihren Bruder an. »Erzähl mir doch, wie Deilos in Verbindung mit Helios getreten ist. Was hat zwei so unterschiedliche Gruppierungen zusammengeführt?«
Polonus’ Gesicht färbte sich dunkelrot. »Warum glaubst du, ich würde das wissen?«
»Weil du ein Helios-Mitglied bist und anscheinend mit Deilos sympathisierst.«
»Ich bemühe mich nur um Gerechtigkeit. Und du solltest meinem Beispiel folgen. Öffne deine Augen!«
Das hatte sie getan, und was sie erblickte, krampfte ihr Herz schmerzhaft zusammen. Am Vortag hatten die Indizien gegen die vier Helios-Anhänger nur geringe Zweifel an ihrer Schuld gelassen. Noch stichhaltiger fand sie die Beweise gegen Deilos. Wenn Polonus der Komplize eines so gemeinen Verbrechers gewesen war...
»Wirst du bald mit Mutter und Vater nach Leios zurückkehren?«, fragte sie.
Darauf gab er ihr keine Antwort. Doch das durfte sie auch nicht erwarten, denn in diesem Moment kehrten Atreus, Marcellus und die Beisitzer in den Palasthof zurück. Der Prozess wurde fortgesetzt.
Kapitel 16
H ört mich an, Akoraner und Akoranerinnen!«, rief Deilos. Die Anklage hatte ihren Fall vorgebracht. Nun verteidigte sich der Beschuldigte. Er hatte es abgelehnt, Zeugen aufzurufen. Selbstbewusst verzichtete er auf entlastende Aussagen. Den Kopf hoch erhoben, wandte er sich an das Gericht und die Prozessbesucher.
Er stand in der Mitte des Hofs und reckte den verstümmelten Arm empor, als wollte er alle Blicke darauf lenken. Nicht einmal Brianna vermochte sich seiner tiefen, sonoren Stimme zu entziehen. Lag darin das Geheimnis seiner Anziehungskraft, die er auf gewisse Leute ausübte?
Interessiert beugte sich Polonus vor. Auf Atreus’ Bitte hin waren alle Zuhörer verstummt, und Deilos genoss ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Vor euch steht ein schändlich diffamierter Mann. Keine Anschuldigung, keine Verleumdung würde mich schmerzlicher treffen. Von ganzem Herzen liebe ich Akora, und ich habe immer nur versucht, meine Heimat zu schützen.«
Ein paar Leute jubelten ihm zu, doch die meisten schwiegen.
»Voller Stolz verfolgt meine Familie ihr Erbe bis zu den Anfängen Akoras zurück, zu jener Zeit, wo die Atreiden die Macht übernahmen. Seither sitzen sie auf dem Thron, während wir stets, eine Generation nach der anderen, gewissenhaft und getreulich dem akoranischen Volk dienten, ohne irgendetwas für uns selbst zu verlangen.«
Diesmal erklangen weniger Jubelrufe, die schnell verhallten.
»In der Vergangenheit beobachteten meine Vorfahren immer wieder voller Sorge, in welche Richtung uns die Atreiden zu führen schienen. Bedrückt fragten sie sich, warum unsere ehrwürdigen Traditionen nicht respektiert wurden; warum sich die angemessene Rolle der Frauen in unserer Gesellschaft zu einem Scherz entwickelte, der eine heilige Übereinkunft ins Lächerliche zog. Und warum sich die Welt da draußen, die ich bereiste und wertlos fand – meinem Urteil dürft ihr rückhaltlos glauben –, immer stärker in unsere einmischte. Trotzdem hielten wir den Mund. Niemals vergaßen wir zu dienen. Und ich sage euch, diese Pflicht erfüllen die Atreiden schon sehr lange nicht mehr. Statt sich für Akora einzusetzen, wollen sie nur herrschen !«
Mit den letzten Worten löste er einen Tumult aus. Die meisten Zuhörer widersprachen ihm entrüstet. Aber vereinzelte, darunter Polonus, stimmten ihm lauthals
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