Insel meines Herzens
finden.«
Etwas weiter unten an der Tafel musste sich Brianna beherrschen, um nicht erstaunt die Brauen zu heben. Im Allgemeinen war der Prinzregent mit seinen eigenen Sorgen und Ängsten vollauf beschäftigt und unfähig, irgendetwas anderes zu beachten. Aber gelegentlich kam sein immer noch erstaunlich scharfer Verstand zum Vorschein, wenn auch nur kurzfristig.
Soeben hatte er die Akoraner völlig richtig beurteilt, falls er zu dieser Kultur auch noch die ausgezeichneten Waffen zählte. Nur gut, dass Akora und England Freundschaft schließen wollen, dachte sie.
Im Lauf des Abends herrschte eine immer fröhlichere, unbeschwertere Atmosphäre. Lord Liverpool ging sogar so weit, freundlich in die ungefähre Richtung des Earl of Grey zu nicken, der ihm zulächelte. Wenn die beiden Gentlemen auch nicht miteinander sprachen, so gingen sie aber auch nicht aufeinander los. Allein schon das musste man einen Erfolg nennen.
Zu dieser Ansicht gelangte auch Lady Melbourne, die hilfreiche Lady, auch unter dem Namen »die Spinne« bekannt, weil sie unentwegt ihre Intrigennetze spann.
In bester Laune betrat die Gästeschar den Ballsaal. Die Musiker – offenbar alle nüchtern – spielten auf einer Galerie oberhalb des großen Raums. Einer Quadrille folgte ein Kotillon. Zuerst führte der Prinzregent Joanna auf die Tanzfläche, wie es ihrem Status als Gastgeberin gebührte, danach tanzte er mit Kassandra.
Widerstrebend und nur auf Alex’ ausdrückliche Anordnung hatte Atreus die britischen Tänze erlernt. Jetzt verbeugte er sich vor Lady Liverpool. Lady Grey war nicht anwesend. Angeblich musste sie sich daheim um ihre zahlreichen Kinder kümmern.
Und so kam Lady Melbourne in den Genuss, den nächsten Tanz mit dem Vanax von Akora zu absolvieren. Während sie beglückt mit ihm schwatzte, glaubte Brianna die einstige verführerische Schönheit der Dame zu erkennen, wann immer die beiden an ihr vorbeischwebten.
Nun entstand eine kurze Pause, und dann erklang aufgeregtes Gemurmel, denn die nächste Melodie, die das Orchester intonierte, war ein schockierender Walzer. Ohne Zögern ergriffen Alex und Royce die Initiative und entmutigten alle Gentlemen, die gehofft hatten, sie könnten Joanna oder Kassandra aufs Parkett geleiten.
Brianna wünschte, auch sie hätte einen Partner, denn der Dreivierteltakt gefiel ihr ganz besonders. Plötzlich stand Atreus vor ihr.
»Allzu gut beherrsche ich diesen Tanz nicht«, erklärte er. »Würden Sie mir helfen?«
Diese Bitte konnte sie ihm wohl kaum abschlagen, oder? Unmöglich, wenn sein Blick so betörend wirkte und ihre Hand – irgendwie – bereits in seiner lag, vor den Augen aller Anwesenden... Ehe sie sich zu drehen begannen, galt ihr letzter klarer Gedanke Lady Melbourne und den anderen Gästen, die sie jetzt vielleicht neu einschätzen und auf eine höhere Stufe stellen würden. Und das missfiel ihr gründlich.
Aber der Tanz mit Atreus – der Walzer mit Atreus – stand auf einem ganz anderen Blatt. Warm und fest lag seine Hand auf ihrer Taille, und er sorgte präzise für den schicklichen Abstand. Und wie er sich bewegte – heiliger Himmel, mit einer Anmut, die kein Mann besitzen dürfte...
Ringsum glitten der Ballsaal und die Galerie im Kreis herum – unbeachtet, unwichtig, nur der Rahmen für den Augenblick und für Atreus. Natürlich war das Glück nicht von Dauer, nichts hatte jemals Bestand. Doch in diesem Augenblick wünschte sie, die Zeit möge stillstehen, der neue Morgen würde niemals anbrechen, und sie könnte für immer in den Armen des Mannes liegen, der die Welt in Schach hielt.
Kapitel 5
B einahe graute schon der Morgen, bevor sich die letzten Gäste verabschiedeten. Vom Fluss war Nebel heraufgestiegen, nicht in dünnen, bescheidenen Schleiern, sondern in dichten, anschwellenden Wolken, die sich stetig verdickten. Schließlich mussten die Vorreiter Fackeln anzünden, damit die Kutscher ihre Gespanne langsam durch die fast undurchdringlichen Schwaden lenken konnten. Das passende Ende eines Tages, der in qualvollem Schneckentempo vergangen ist, dachte Atreus, obwohl er auch einige angenehmere Momente erlebt hatte.
Zum Beispiel Briannas unvergleichlicher Zauber – welch eine angenehme Überraschung... Dass sie schön war, hatte er gewusst. Aber die Entdeckung ihrer Charakterstärke, ihrer reinen Seele und Klugheit bereitete ihm noch größere Freude.
Und die anderen Eindrücke, die er gewonnen hatte? Wenn Liverpool und die übrigen Minister auch ziemlich
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