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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
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ist immer nur der Verstand, den wir in Bewegung halten. Die Jungen sind einfach zu sehr hier eingepfercht und verbringen jeden Tag eine lange Zeit über ihren Büchern. Und da wir gerade über Bücher sprechen …«
    Er öffnete eine weitere Tür – ebenfalls aus schwerem Eichenholz –, und wir betraten die Bibliothek. Es war der schönste Raum, den ich jemals gesehen hatte. Eine Reihe von Lesepulten stand darin, ihr poliertes Holz schimmerte matt im hereinfallenden Licht. In jedes dieser Pulte war ein Regal eingebaut, das mit Büchern gefüllt war. Auch an jeder Wand standen Pulte, auf denen sich ebenfalls Bücher stapelten. Nie in meinem Leben hatte ich so viele Bücher an einer Stelle gesehen. »Man hat sich die Bibliotheken in Cambridge zum Vorbild genommen, wo auch unsere beiden bisherigen Präsidenten studiert haben. Wie ich Euch bereits sagte, beläuft sich John Harvards ursprüngliche Hinterlassenschaft auf etwa vierhundert der Bücher, die Ihr hier seht«, erklärte Samuel. »Insgesamt sind es mittlerweile doppelt oder dreimal so viele.« Er sprach sehr hastig, als habe er es eilig, Worte und Fakten aus sich heraussprudeln zu lassen, obwohl es doch ganz andere Überlegungen waren, die ihm in diesem Moment im Kopf herumgingen. Ich bemühte mich, möglichst treffende Antworten zu finden, obwohl auch ich in Gedanken ganz woanders war.
    »John Harvard wäre sicher sehr zufrieden«, sagte ich, »wenn er wüsste, dass seine Spende um so viel angewachsen ist.« Die Luft im Raum war angenehm trocken und roch ganz eigentümlich, wie Gebäck, so als hätte gerade jemand frischen Zwieback aus dem Ofen gezogen. Ich fuhr mit der Hand über die fein verzierten Lederrücken. Cicero, Isokrates, Vergil, Ovid. Luther, Thomas von Aquin, Bacon, Calvin. Allein schon der Zugang zu einem solchen Raum war Bildung. »Die Studenten müssen glücklich darüber sein, ihre Zeit hier verbringen zu dürfen.«
    »Oh, ihnen steht die Bibliothek im Allgemeinen gar nicht zur Verfügung. Man erwartet von ihnen, dass sie die Bücher käuflich erwerben, die sie während des Studiums brauchen. Die hier sind zur Benutzung durch Lehrkräfte wie meine Wenigkeit gedacht – das heißt, für diejenigen wie mich, die einen höheren Bildungsabschluss anstreben. Die Sammlung ist, wie Ihr seht, reich an theologischen und philosophischen Arbeiten, weniger an medizinischen oder juristischen. Präsident Dunster ist es nie gelungen, Mittel dafür zu beschaffen, weil unsere Wohltäter am meisten daran interessiert sind, Diener Gottes heranzuziehen. Ich glaube nicht, dass Präsident Chauncy darin mehr Erfolg haben wird. Und dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass man diese Berufe zu akademischen Berufen machen und auch an dieser Lehranstalt besser berücksichtigen sollte.«
    »Auch wenn Ihr noch einige Mängel seht, habe ich den Eindruck, hier könnte man ein ganzes Leben verbringen und aus dem Reichtum dieser Bibliothek Nutzen ziehen. Doch es dauert mich, dass die jüngeren Studenten so eingeschränkt sind, wie Ihr sagt. Warum müssen sie vier Jahre warten, bis sie Zugang zu diesen Schätzen erhalten?«
    Er hob die Schultern und gab mir keine Antwort. Offenbar war er es plötzlich leid, die Rolle eines Führers zu spielen und für alles Rede und Antwort zu stehen. Er war ans Fenster getreten und schaute hinaus, als habe etwas dort unten im Garten des College seine Aufmerksamkeit geweckt. Schweigen senkte sich über den Raum. Um meine Verlegenheit zu überspielen, zog ich eine schöne Ausgabe von Plutarch aus dem Regal. Aus dem Treppenhaus drangen Geräusche herauf. Jemand klopfte mehrfach laut an die Tür des College. Doch hier in der Bibliothek durchbrach nur das leise Rascheln umgeblätterter Seiten die Stille.
    Er stand mit dem Rücken zu mir, knetete die Hände, die er hinter dem Rücken verschränkt hatte. Ich legte das Buch auf dem Lesepult ab. Da es ein schwerer Band war, schlug er dabei mit einem dumpfen Laut auf. Samuel drehte sich nicht um.
    »Ich denke, es wird Euch nicht verborgen geblieben sein«, sagte er schließlich, »welch hohe Meinung ich von Euch habe.«
    Jetzt kamen wir endlich zur Sache. Ich holte tief Luft. Das Schweigen im Raum wurde länger und länger. Da er nichts sagte, fühlte ich mich verpflichtet, ihm etwas zu erwidern.
    »Ich bin mir nicht sicher …«, begann ich, doch mir brach die Stimme. Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal. »Damit will ich sagen, auch wenn mich Eure hohe Meinung sehr freut, verstehe ich

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