Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
sich darin eingeprägt haben. Man sagt, sie seien bei jedem Menschen verschieden, obwohl ich mich frage, wie es möglich sein soll, das zu sagen, wenn man nicht von jedem Menschen einen Fingerabdruck genommen und ihn verglichen hat. Scharlatane und Teufelsanbeter behaupten, sie könnten in den Handlinien das Schicksal eines Menschen lesen. Und wahrlich, heute Nacht würde ich mir wünschen, es wäre so. Dann würde ich mein Schicksal erkennen.
Bethia Merry. Bethia Corlett. Ich, Bethia Mayfield, muss mich entscheiden. Vielleicht wird diese Entscheidung eine sein, die ich wirklich selbst treffe. Der Docht sinkt ganz langsam im Wachs zusammen, und die Flamme verlischt.
Ich werde meine Entscheidung im Dunkeln fällen müssen.
XVI
Es wäre gelogen, wenn ich behaupten wollte, ich hätte in jener Nacht nicht gut geschlafen, denn ich schlief wie ein Stein. Damals war ich ständig müde, und selbst die größte innere Unruhe hätte mich nicht wachgehalten.
Am nächsten Morgen betrachtete ich mein Spiegelbild im Spülbottich und fragte mich, warum mich solche Überlegungen überhaupt so lange wachgehalten hatten, denn dass ein Mann mich, dieses hohlwangige, ausgezehrte Ding zur Frau nehmen wollte, war mit dem Verstand kaum nachvollziehbar. Und so muss ich gestehen, dass ich mich an jenem Morgen mehr als sonst mit meinem Aussehen beschäftigte, eine frische Haube aufsetzte, einen blütenweißen Kragen anlegte, und mich redlich darum bemühte, meine ungepflegten Nägel zu säubern und zu schneiden.
Wie erwartet stand Samuel Corlett vor der Tür, während seine Studenten Präsident Chauncys Morgenvorlesung besuchten. Er habe, wie er sagte, die Erlaubnis des Präsidenten erhalten, mir John Harvards Bibliothek zu zeigen, während seine Studenten in der großen Aula beschäftigt waren − vorausgesetzt, ich wolle sie überhaupt noch sehen.
Er half mir in den Umhang, und wir legten die kurze Entfernung zum alten College, das ich noch nie betreten hatte, zu Fuß zurück. Wie ich bereits erwähnt habe, handelte es sich um ein überaus schön angelegtes Gebäude, das allerdings mittlerweile sehr baufällig war. Wir betraten den Mittelflügel durch eine große Eichentür. Vor uns lag eine breite Treppe, und Samuel bedeutete mir hinaufzugehen, da sich die Bibliothek im zweiten Stock, im hinteren Teil des Gebäudes befand. Um sie zu erreichen, mussten wir auch an den Räumlichkeiten der Studenten vorbei. Er öffnete eine Tür, damit ich einen Blick in einen von ihnen werfen konnte. Es war ein großzügiger Raum mit vier Betten, unter die jeweils eine weitere Bettstatt geschoben war. Licht strömte durch das Rautenglas der Fenster herein, und in jeder Zimmerecke befanden sich kleine Nischen, in denen die Studenten ungestört lernen konnten. »Jeweils acht Jungen wohnen in einem Zimmer«, erklärte er. »Wir versuchen, in jedem der Räume einen Studenten höheren Semesters oder einen Tutor unterzubringen, der für Ruhe und Ordnung sorgt.« Er lächelte. »Obwohl uns das nicht immer gelingt, wie man hier drinnen sieht.« Er führte mich in ein zweites, längliches Gemach, das direkt über der großen Eingangshalle lag. »Das ist der Schlafsaal der Erstsemester.« Hier war gerade ein Glaser damit beschäftigt, mehrere zerbrochene Fensterscheiben zu ersetzen. »Einen guten Morgen wünsche ich dir, Vetter Ephriam«, rief Samuel.
»Auch dir einen guten Morgen, Vetter. Ist immer ein guter Morgen für mich, wenn sich deine Jungs nicht benehmen können!«
»Mein Vetter, Meister Cutter, bekommt hier im College viel Arbeit, muss ich zu meinem Bedauern sagen. Die Jungs lassen ihre gute Laune eben besonders gerne an den Scheiben aus, auch wenn sie wissen, dass es sie eine Tracht Prügel kostet, sollten sie dabei erwischt werden. Wahre Söhne von Propheten!« Er schüttelte den Kopf und schloss die Tür wieder.
»Aber wie könnt Ihr denn eigentlich sicher sein«, fragte ich schelmisch, »dass die Söhne von Amos und Elias über derlei derbe Späße erhaben waren? Nicht jeder Knabe in der Bibel war doch von untadeligem Charakter. Schaut Euch Kain an, oder Josephs Brüder … Was sind im Vergleich dazu ein paar zerbrochene Fensterscheiben?«
»Wohl gesprochen«, antwortete er. »Immerhin sind sie Jungen, bevor sie Studenten werden. Und manche von denen, die hierherkommen, sind wirklich noch sehr jung. Abgesehen vom Schlittschuhlaufen auf dem Teich im Winter bekommen sie, wie ich fürchte, nur wenig Gelegenheit zu körperlicher Ertüchtigung. Es
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